Aufklärung, radikal
Christian-Wolff-Professor Israel hatte seinen Ansatz in drei voluminösen Bänden – Radical enlightenment (2001), Enlightenment Contested (2008), Democratic Enlightenment (2011) – entfaltet und die Fachwelt durch seinen Materialreichtum und die treffsichere Darstellung von komplexen Zusammenhängen beeindruckt. Freilich war Israels Ansatz von Anfang an auch umstritten. Widerspruch und kritische Anfragen betreffen zwei Aspekte: Einerseits wird ihm vorgehalten, der mit der radikalen Aufklärung identifizierten modernen Philosophie eine geradezu monokausal erscheinende politische Wirksamkeit zu unterstellen. In dieser Lesart ist die Französische Revolution Folge radikaler Philosophien. Andererseits wird die historische Angemessenheit einer Zweiteilung der Aufklärung in Frage gestellt. Denn die behauptete politische Wirksamkeit kommt – nach Auffassung von Israel – nur der radikalen Aufklärung zu, die ohne Rücksicht auf die politischen Gegebenheiten eben „radikal“, von lat. Radix = Wurzel, d.h. im Wortsinne: von der Wurzel her, für Toleranz, Selbstbestimmung und demokratischen Republikanismus eintritt. Die erfolglose moderate Aufklärung war währenddessen bereit, sich zur Verbesserung menschlicher Lebensverhältnisse mit den Ansprüchen der politischen und geistlichen Eliten zu arrangieren.
Beide Kritikpunkte spielten auch in den Diskussionen an der MLU eine Rolle, deren Höhepunkt ein kleines Symposion bildete, zu dem Prof. Dr. Ursula Goldenbaum (Atlanta), Prof. Dr. Martin Mulsow (Erfurt), Prof. Dr. Winfried Schröder (Marburg) und der in Halle lehrende Prof. Dr. Robert Schnepf eingeladen waren, um mit Jonathan Israel Concepts of enlightenment zu diskutieren. In seiner Diskussionsvorlage verwies Israel auf den Kern seines Anliegens: Erst das politische Scheitern der moderaten Aufklärung verschaffte der radikalen Aufklärung die entscheidende politische Resonanz. Sie war für die unzufriedene Bevölkerung insofern nützlich als sie deren politischen Willen Form und Ziel gab, sodass die Philosophie der radikalen Aufklärung das zusätzliche und entscheidende Moment war, das inmitten sozialer und politischer Unruhe die Französische Revolution verursachte. Jonathan Israel hob zwei Kennzeichen dieser philosophischen Radikalität hervor: einerseits eine Religionskritik, die die Providenz Gottes bestritt und die Gleichheit der Menschen behauptete, und andererseits ein politisches Programm, das auf sozialen Wandel drängte und dabei die philosophisch begründete Gleichheit der Menschheit politisch umsetzt.
Die geladenen Diskutanten griffen insbesondere den Gedanken einer radikalen Aufklärung produktiv auf, traten aber aus historischer wie philosophischer Sicht für weitgehende Differenzierungen ein. So warb Robert Schnepf am Beispiel des von Israel als Modellfall herangezogenen Philosophen Benedikt Spinoza für die Unterscheidung zwischen einer radikalen Aufklärung, die auf einen politischen Wandel durch politische Aktionen setzt, und einer aufgeklärten philosophischen Radikalität, die ohne Rücksicht auf die politische Situation radikal die anthropologischen Voraussetzungen der conditio humana untersucht – und dabei zu Ergebnissen kommt oder kommen kann, die radikalen politischen Aktionen eher abgeneigt sind.
An diesem Begriff von Radikalität konnte Winfried Schröder anschließen. Anhand von Kants Begriff einer Kritik, der sich alles unterwerfen muss, demonstrierte er eine philosophische Radikalität, die insofern nicht zu überbieten ist als sie vorbehaltlose Selbstkritik einschließt, ohne aber – wie das Beispiel Kant zeigt – notwendigerweise zu radikalen politischen Aktionen durchzudringen. Während Ursula Goldenbaum den „idealistischen“ Zugriff und terminologische Unklarheiten bei der Bestimmung dessen bemängelte, was Radikalität genau zu sein habe, sah Martin Mulsow in der Unterscheidung zwischen radikaler und moderater Aufklärung ein brauchbares Analyseinstrument, das behilflich sein kann, den kritischen Punkt innerhalb von Auseinandersetzungen aufzufinden. Zugleich warnte er aber vor allzu statischen Zuordnungen, denn die einzelnen Positionen sind in Bewegung und stellen Vermischungen dar, die sich nur durch die Berücksichtigung ihres jeweiligen pragmatischen Kontextes aufschlüsseln lassen.
Die Zuhörer erlebten nach Einschätzung von IZEA-Direktor Prof. Dr. Daniel Fulda „eine wahre Sternstunde“. Es versteht sich, dass die ungemein lebhafte Diskussion zu keinem abschließenden Konsens geführt hat – das ist in geisteswissenschaftlichen Zusammenhängen auch eher unüblich. Ertrag und Reichweite eines Ansatzes, der in der gegenwärtigen Aufklärungsdiskussion Maßstäbe setzt, sind gleichwohl deutlich geworden. Die Auseinandersetzung ist allerdings noch längst nicht zu Ende.