Der Blick der kleinen Leute

18.07.2024 von Ines Godazgar in Wissenschaft, Forschung
Private Tagebücher sind ein Glücksfall für die Geschichtswissenschaft. Sie enthalten Einblicke in die Lebenswelt ganz normaler Menschen, deren Alltagsperspektive oft weder öffentlich wahrgenommen noch historisch überliefert wird. Um diesen Schatz zu heben, widmen sich immer häufiger wissenschaftliche Projekte der Erforschung dieser Gattung – auch zwei Projekte am Institut für Geschichte.
Tagebücher aus dem Tagebucharchiv Emmendingen - dort wird auch im Rahmen eines MLU-Projekts geforscht.
Tagebücher aus dem Tagebucharchiv Emmendingen - dort wird auch im Rahmen eines MLU-Projekts geforscht. (Foto: picture alliance/dpa, Philipp von Ditfurth)

Der jüdische Chemiker Jakub Poznański vertraute die Schrecken seines Alltags im Ghetto Litzmannstadt einem Schulheft an: „Ich verberge meinen Hunger vor Frau und Kind. Seit einigen Tagen bemerke ich, dass ich nur noch Haut und Knochen bin. Auf dem Kopf liegt die Haut direkt auf dem Schädel, ohne jede Fettschicht, bei Berührung ist das ein sehr trauriges Gefühl.“

Katarzyna Woniak
Katarzyna Woniak (Foto: privat)

Poznański und seine Familie gehörten 1945 zu den wenigen Überlebenden des Ghettos. Seine Schilderungen umfassen insgesamt dreizehn Schulhefte. Für Dr. Katarzyna Woniak vom Institut für Geschichte sind sie heute eine wichtige Quelle. Seit 2020 erforscht die Historikerin im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts die Gefühlswelten der Menschen, die in Polen zwischen 1939 und 1945 unter deutscher Besatzung gelebt haben.

In der geschichtswissenschaftlichen Forschung sind Emotionen in Zeiten von Gewalt laut Woniak bisher nur wenig untersucht worden. Gleiches gilt für die Schilderungen so genannter kleiner Leute in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg. „Meine Arbeit ist ein Beitrag, um diese Lücke zu schließen“, sagt die Forscherin. Gerade private Äußerungen seien wichtig: „Sie machen anschaulich, wie durchgreifend der Krieg und das Besatzungssystem waren und wie stark sie das emotionale Leben der Menschen beeinflusst haben.“

Private Quellen für private Zwecke

Wenn man sich für Menschen und damit auch für die subjektive Seite von Geschichte interessiert, „dann sind Tagebücher eine wichtige Quelle“, sagt Woniak. Rund 400 Exemplare hat die gebürtige Polin für ihr Projekt ausfindig gemacht – in Museen, Archiven und Dokumentationsstellen.

Woniak interessiert sich vor allem für den Wandel der Emotionen, der sich anhand der Tagebuch-Schilderungen gut nachvollziehen lässt. „Tagebücher wurden meistens über mehrere Jahre geführt. Sie geben uns dadurch die Möglichkeit, eine längere zeitliche Perspektive in den Blick zu nehmen.“

Die Auswertung indes ist nicht nur aufwändig; sie erfordert auch intensive Einarbeitung. Dabei gelte es, ethische Aspekte nicht aus dem Blick zu verlieren, „schließlich haben die Verfasser bis auf wenige Ausnahmen für sich und nicht für die Nachwelt geschrieben.“ Daher müsse man vor allem bei intimen Details mit Augenmaß entscheiden, ob diese Informationen verwendet werden oder nicht.

Außerdem muss Katarzyna Woniak sich ein möglichst konkretes Bild vom jeweiligen Autor verschaffen: Wer war die Person, was hat sie vor dem Krieg gemacht und warum griff sie zum Stift? Um zu systematischen Ergebnissen zu kommen, wertet sie alle Stellen aus, an denen die Verfasser sich zu ihren Gefühlen geäußert haben. Zwölf sehr verschiedene Personengruppen hat sie dabei bisher ausgemacht, unter ihnen Vertriebene, Erkrankte, Familien, Ghettobewohner, Versteckte, Dorfgemeinschaften. Sie alle haben verschiedene Perspektiven auf die Besatzungszeit. Ihnen will die Wissenschaftlerin mit ihrer Forschung „eine Stimme geben“, denn die Ergebnisse von Woniaks Arbeit sollen in ein Buch einfließen, das zum Ende des Projekts im Jahr 2026 publiziert werden soll.

Krieg, so sagt die Historikerin, sei eine außergewöhnliche Situation, die auch Emotionen verändere. Der Krieg in der Ukraine habe ihr noch einmal deutlich vor Augen geführt, wie wichtig es ist, sich damit zu befassen. „Die Relevanz des Themas ist gestiegen“, sagt sie und ergänzt: „Ohne die Auswertung von Tagebüchern würde die Wissenschaft hier nicht so weit kommen.“

Schweigen ist Gold

Theo Jung
Theo Jung (Foto: Maike Glöckner)

Dass Tagebücher auch ganz anders für die Forschung genutzt werden können, zeigt ein Projekt, das derzeit ebenfalls am Institut für Geschichte angesiedelt ist – und zwar bei Prof. Dr. Theo Jung: In „Between Voice and Silence: Communicative Norms in Diaries, 1840–1990“ – so der offizielle Titel – untersucht Jung gemeinsam mit Dr. Pia Schmüser, welche Erwartungen Menschen mit Kommunikation oder Nicht-Kommunikation verbinden.

Finanziert durch den britischen Leverhulme Trust suchen sie gemeinsam mit Forschenden der University of Reading in Großbritannien nach Antworten auf die Frage, warum heutige Gesellschaften glauben, durch Kommunikation so viele Probleme lösen zu können. „Wir haben heute einen negativen Blick auf das Schweigen“, sagt Theo Jung, „denn dabei entsteht der Eindruck, etwas werde tabuisiert, vernachlässigt oder unterdrückt. Doch das war nicht immer so. Deshalb wollen wir ergründen, wann diese stark normativ aufgeladene Sicht entstanden ist und was dahintersteckt."

Pia Schmüser recherchiert dazu vor allem im Deutschen Tagebucharchiv im baden-württembergischen Emmendingen; rund 300 Tagebücher aus ganz unterschiedlichen Epochen hat die Forschungsgruppe sich vorgenommen. „So erhalten wir einen Einblick, wie Menschen zu verschiedenen Zeiten über Dinge sprachen oder eben schwiegen und wie sie darüber selbst reflektierten“, erklärt Jung. Von Interesse sei, wie in den Tagebüchern über alltägliche Kommunikation berichtet wird und welche normativen Erwartungen damit verknüpft werden. Um eine wissenschaftliche Analyse zu ermöglichen, werden alle Befunde in eine Datenbank eingetragen und verschlagwortet. „Schließlich interessieren wir uns für den langfristigen historischen Wandel“, erklärt Jung.

Vorab seien bereits Hypothesen erarbeitet worden, warum die Kommunikation für heutige Gesellschaften so wichtig geworden ist. Dazu zählen unter anderem das Aufkommen von Psychoanalyse und Psychotherapie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, politische Liberalisierung und Demokratisierung, sowie der Aufstieg einer modernen Mediengesellschaft, die durch die Verfügbarkeit von Rundfunk und Fernsehen eingeläutet wurde. Ein weiterer Faktor sei das Aufkommen neuer sozialer Bewegungen in den 1960er Jahren gewesen, eine Entwicklung, die die Mentalität veränderte durch die Vorstellung, dass es wichtig sei, in der Gesellschaft seine Stimme zu erheben, Tabus zu brechen und Konflikte offen zu thematisieren.

Es gibt nicht die eine Art Tagebuch

Pia Schmüser im Archiv
Pia Schmüser im Archiv (Foto: Deutsches Tagebuch-Archiv / Gerhard Seitz)

Und obwohl den von Pia Schmüser untersuchten Tagebüchern lediglich die persönlichen Aussagen Einzelner zu entnehmen sind, so lässt sich in der Gesamtschau dennoch ein gesellschaftlicher Prozess beobachten. „Tagebücher sind eine fantastische Quelle“, sagt Historiker Jung, der bereits mehrfach zu und mit dieser Gattung geforscht hat. „Sie geben uns einen Einblick in Lebenswelten, an denen wir sonst niemals herankommen würden.“ Deshalb sei seit einigen Jahrzehnten in der Geschichtswissenschaft generell ein stärkerer Fokus auf diese Quellengattung zu beobachten.

So habe man inzwischen auch herausgefunden, dass das Spektrum an Tagebüchern in den Archiven viel größer als erwartet ist: Unsere Standardvorstellung vom klassischen Tagebuch, in dem eine Person ihren Alltag schildert und über das eigene Innenleben nachsinnt, treffe nur auf einen Teil des Bestands in Archiven zu, sagt Jung. Dort existierten viele andere Varianten, in denen sich die Autoren weniger stark mit sich selbst befassten, sondern mehr auf ihre Umwelt orientiert seien. Später verändere sich auch die Form, hin zu mehr Gestaltung, ergänzt durch Fotos und Zeitungsartikel oder farbenfroh bemalt, man könnte auch sagen, so Jung, „sie werden zunehmend multimedial“.

Rund 20.000 Tagebuch-Quellen aus unterschiedlichen Epochen lagern allein im Archiv in Emmendingen. Jung zufolge sind Tagebücher oft „ein privates Selbstgespräch, eine Art Ersatzkommunikation. Und generell: „ein Schatz, den es unbedingt zu heben gilt.“

Schlagwörter

Geschichte

Kommentar schreiben

Auf unserer Webseite werden Cookies gemäß unserer Datenschutzerklärung verwendet. Wenn Sie weiter auf diesen Seiten surfen, erklären Sie sich damit einverstanden. Einverstanden