Sexualaufklärung im Hörsaal
Die lustvolle Ausübung des Sexualverkehrs war für Christian Wolff offenbar keine Einbahnstraße. Schon vor 300 Jahren vermittelte der Universalgelehrte seinen Hörern, dass der Geschlechtsakt „beßer von statten gehet, wenn beyde Mann und Weib Lust haben“. Zu lesen ist diese für jene Zeit gleichermaßen offenherzige wie fortschrittliche Erkenntnis in einer Vorlesungsnachschrift aus dem akademischen Jahr 1717/18.
Ausführliche Nachschriften von Vorlesungen wurden zu jener Zeit an den Universitäten häufig angefertigt und erfreuten sich unter Studenten großer Beliebtheit. Sie entstanden in Ermangelung moderner Vervielfältigungsmöglichkeiten gewissermaßen aus der Not heraus. Nicht selten übernahmen professionelle Schreiber die Verbreitung, indem sie studentische Mitschriften sammelten und ins Reine schrieben, um sie dann - wie gedruckte Lehrbücher - an nachkommende Studentengenerationen zu verkaufen.
Ein solches Heft fristete lange Zeit ein weitgehend unbeachtetes Dasein in der Universitäts- und Landesbibliothek (ULB). Der unscheinbare, rund 300 Seiten starke Band mit der Nachschrift von Christian Wolffs Vorlesung über die Zeugungslehre aus dem Wintersemester 1717/18 war dort vor mehr als einhundert Jahren für fünf Mark angekauft worden. Jedoch hat ihn, das belegt die seit der deutschen Einheit dokumentierte Ausleih-Historie, kaum mehr als eine Handvoll Experten eingesehen. „Ich konnte kaum glauben, was ich darin zu lesen bekam“, sagt Dr. Stefan Borchers. Der Wissenschaftler, der über Zeugungslehren des 18. Jahrhunderts promoviert hat, war darauf gestoßen, als er 2010 im Rahmen einer Gastprofessur an der MLU lehrte. Der unverhoffte Manuskriptfund hat ihn seitdem nicht losgelassen. Inzwischen arbeitet er gefördert mit einem Forschungsstipendium der renommierten Gerda Henkel Stiftung an einer historisch-kritischen Edition des Textes, die im kommenden Jahr abgeschlossen sein soll.
„Dass sich Wolff auch als Sexualaufklärer betätigt hat, war bislang unbekannt“, sagt Borchers. „Und erst recht, wie freimütig er sich im mündlichen Vortrag über Fragen der menschlichen Sexualität geäußert hat.“ Kein Wunder also, dass Wolff bald als einer der erfolgreichsten und populärsten Professoren seiner Zeit galt, zu dem die Studenten sogar mit der Maßgabe geschickt wurden, „sie möchten ja nicht an andern Orten sagen, daß sie in Halle gewesen wären, wenn sie einen so berühmten Mann nicht gehöret hätten.“
Wolff, der 1706 zunächst auf eine Professur für Mathematik an die Friedrichs-Universität zu Halle berufen wurde, verlegte sich in den Folgejahren auch auf die Physik. Aus heutiger Sicht erstaunlich: In den Zuständigkeitsbereich dieses Fachs fiel auch die Zeugungslehre. Zwar beschäftigten sich damals bereits Mediziner mit solchen Fragen, jedoch betrachteten sie eher physiologische Aspekte, etwa Fehlbildungen und Dysfunktionen. Insofern war es keineswegs ungewöhnlich, dass Wolff in besagter Vorlesungsreihe zunächst über die Fortpflanzung der Pflanzen und später über die der Tiere und Menschen referierte.
Ungewöhnlich war jedoch, dass er das in deutscher und nicht - wie damals noch weithin üblich - in lateinischer Sprache tat. „Das war durchaus ein Wagnis“, sagt Borchers. „Denn in der akademischen Lehre galt noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ein Gebot der Schicklichkeit, das bei verfänglichen Themen wie der menschlichen Sexualität die Verwendung der Gelehrtensprache Latein vorschrieb.“ Wolff scheute den Vorwurf der Anstößigkeit aber offenbar nicht. Als echtem Philosophen war ihm nichts Menschliches fremd.
Das zeigt sich beispielsweise daran, dass er sich in seiner Lehrveranstaltung nicht auf die unmittelbar mit der Fortpflanzung in Zusammenhang stehenden Sexualfunktionen beschränkte. Vielmehr kam er immer wieder auch auf andere Aspekte zu sprechen, etwa den der Lust. Und zwar nicht nur als Begleiterscheinung des Geschlechtsakts, sondern ebenso bei der Masturbation. Ohne moralisierende Wertung schilderte er etwa den Gebrauch so genannter „Passatempos“, einer Art Vorläufer heutiger Dildos oder Vibratoren, die zuerst in Italien aufgekommen waren. Wolff klärte seine jungen männlichen Hörer - Frauen waren noch nicht zum Studium zugelassen - darüber auf, dass dieser „Italiänischen mode auch viele unsers Frauen Zimmers gefolget sind“, wie es in der Vorlesungsnachschrift heißt. Entsprechend schwieriger sei es geworden, sichere Kennzeichen der Jungfräulichkeit anzugeben.
Mitunter lesen sich Wolffs Ausführungen wie eine Art Aufklärungsunterricht. Etwa dann, wenn er regelrechte Praxistipps zur Hand hat: So liefert er nach einer anatomischen Beschreibung der Lage der Vagina folgende Schlussfolgerung: „Da hero ists in coitu auch beßer, wenn das Frauenzimmer mit dieser Gegend erhöhet lieget, denn da kann man seine praxin desto beßer applicieren.“ Dieser Satz liest sich wie eine Handlungsanweisung für einen für beide Geschlechter lustvollen Sexualverkehr.
Im gleichen Maß, wie Wolffs Ausführungen seine jungen männlichen Zuhörer erheitert und vermutlich wohl auch erregt haben mögen, sorgten sie bei den pietistischen Professoren der Theologischen Fakultät für Empörung. Sie empfanden seinen Vortrag als „sehr ärgerlich“. Noch Jahre später stand die Behauptung im Raum, Wolff habe „in seinen physicalischen Stunden die Lehre von der Erzeugung des Menschen allzuhandgreiflich und deutsch erkläret, daß die Anhänger der Hällischen Gottesgelehrten vor Schaam die Augen niedergeschlagen, und das bey ihnen dadurch erregte Aergerniß den Gottesgelehrten mit Seufzen und Thränen geklaget hätten.“ Vorwürfe, denen der Leipziger Wolff-Anhänger Carl Günther Ludovici damals in seiner Darstellung der Auseinandersetzungen um die Wolffsche Philosophie süffisant entgegengetreten ist.
Auch vor diesem Hintergrund ist die Nachschrift der Vorlesung zur Zeugungslehre ein wichtiges Dokument. Denn sie liefert einen Beleg für den sich zuspitzenden Streit zwischen Wolff und den Pietisten, der wenige Jahre später in seiner spektakulären Vertreibung aus Halle kulminieren sollte.
Nach Meinung von Stefan Borchers ist die Textgattung der Vorlesungsnachschrift „zumindest für Wolffs Epoche philosophiegeschichtlich allzu sehr unterschätzt worden“. Doch liefern solche Manuskripte mit ihrer zwar vom individuellen Können des jeweiligen Mitschreibers gefärbten, aber in aller Regel akribischen Wiedergabe des mündlichen Vortrags ein wesentlich lebendigeres Bild vom Lehrgeschehen jener Zeit, als es etwa Wolffs gedruckte Schriften vermögen. Der Wissenschaftshistoriker hofft deshalb, mit seiner Edition gleichermaßen Interesse an den Inhalten von Wolffs Lehre wie an seiner Praxis als Hochschullehrer zu wecken. Denn schließlich, so meint Borchers, zeige die Vorlesung über die Zeugungslehre eindrücklich, „dass die deutsche Philosophie der Aufklärungszeit alles andere als langweilig ist.“