Nachruf: Günter Mühlpfordt - Der Wahrheit verpflichtet
Günter Mühlpfordt – es fällt schwer, ihm etwas nachzurufen … Viel lieber würde ich ihm gegenüber sitzen … im Gespräch über ein gegenwärtiges Vorhaben oder über ein künftiges Projekt – wie wir es, durch etliche in der einen oder anderen Weise gemeinsam in Angriff genommene Arbeiten verbunden, seit fast zwei Jahrzehnten regelmäßig taten.
Doch für Günter Mühlpfordt schloss sich im Alter von fast 96 Jahren am 4. April 2017 der Lebenskreis. Sein ganzes langes Da-Sein und So-Sein hat er in den Dienst von Wissenschaft und Wahrheit gestellt. Vitam impendere vero – Das Leben der Wahrheit weihen, so lautete sein Credo, das er dem IV. Buch der Satiren des römischen Dichters Juvenal entnahm. Bereits der französische Aufklärer Jean-Jaques Rousseau sah diese Worte als leuchtenden Leitspruch an. Und die Aufklärung – die mitteldeutsche wie die europäische – war Günter Mühlpfordts Hauptforschungsfeld, das der hallesche Historiker lebenslang bearbeitet hat.
Aber auf so rigorose Weise der Wahrheit verpflichtet zu sein, blieb nicht folgenlos. Unter den nach 1945 in Ostdeutschland (vor)herrschenden politischen Verhältnissen machte es zwangsweise aus einem hoffnungsvollen jungen Gelehrten für Jahrzehnte einen Geächteten – ein Unrecht, das selbst durch die „vollständige Rehabilitation“ 1990 nicht wieder gutzumachen war, denn für eine Fortsetzung der gewaltsam abgebrochenen universitären Karriere war es für den fast 70-Jährigen unwiderruflich zu spät. Nicht jedoch für weitere wissenschaftliche Forschungen, größtenteils zur Frühen Neuzeit und zur mitteldeutschen und europäischen Aufklärung, für Vortrags- und Publikationstätigkeit. Doch davon später mehr.
Rehabilitation mit fast 70 Jahren
Günter Mühlpfordt, am 28. Juli 1921 in eine hallesche Fabrikantenfamilie geboren, entdeckte seine Liebe zur Geschichte schon als Achtjähriger. Da las er in einem Geschichtsbuch seines Vaters und war vom Heimatkundeunterricht fasziniert. Ein maßgebliches Bildungserlebnis war ihm die Lektüre von Friedrich Wilhelm Putzgers Großem Geschichtsatlas aus dem Jahr 1931. Als Knabe Zögling der Franckeschen Stiftungen, interessierte er sich früh für Sprachen, ebenso oder mehr noch für das Mittelalter. Bald stand sein Studienwunsch fest. Mit 18 Jahren legte er das Abitur ab, nahm im Herbst 1939 an der Alma Mater Halensis ein Studium der Geschichte, Philosophie und Slawistik auf. Bereits 1941 wurde er bei Martin Lintzel mit einer Arbeit über „Die deutsche Führung des böhmisch-mährischen Raumes in der Zeit Maria Theresias und Josefs II.“ mit magna cum laude promoviert.
Weitere wichtige Lehrer waren der Mediävist Karl Jordan, der Prähistoriker Paul Grimm, der Rechtshistoriker Gerhard Buchda, der Neuzeithistoriker Martin Göhring, schließlich der Osteuropahistoriker und (nach dem Theologen Otto Eißfeldt) zweite Rektor der Alma Mater Halensis nach dem zweiten Weltkrieg Eduard Winter.
Erzwungenermaßen Wehrmachtsangehöriger und Kriegsgefangener, nach der Rückkehr vorübergehend als Dolmetscher tätig, verlor Günter Mühlpfordt doch zu keiner Zeit sein Ziel aus den Augen: suchend und forschend der Wissenschaft zu dienen. Sehr bald galt den Aufklärungsuniversitäten Wittenberg und Halle, Leipzig, Erfurt und Jena und ihrer Ausstrahlung auf Europa und die Welt sowie prägenden Gestalten der mitteldeutschen Aufklärung wie Christian Wolff, Christian Thomasius, oder Karl Friedrich Bahrdt und vielen anderen sein Hauptaugenmerk.
Institutsaufbau in Halle und Berlin
1947 wurde er Lehrbeauftragter und Assistent von Eduard Winter, baute in dessen Auftrag in Halle ein Universitätsinstitut für Osteuropäische Geschichte auf und übernahm zwischen 1949 und 1951 den Wiederaufbau des Instituts für Osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität in Berlin. Er war auf bestem Weg zu werden, was später ein „Senkrechtstarter“ hieß. 1953 habilitierte er sich mit einer Analyse über „Die polnische Krise von 1863“. Die Themenwahl begründete Günter Mühlpfordt 1998 im Interview für die „Hallischen Beiträge zur Zeitgeschichte“ von Prof. Dr. Hermann-Josef Rupieper so: „Das Thema habe ich, die Analogie zwischen dem Schicksal des geteilten Polen und dem des geteilten Deutschland vor Augen, bewusst gewählt. Überdies war – für den Historiker stets wichtig! – die Quellenlage günstig.“
Im Mai 1953 wollte Günter Mühlpfordt seine Antrittsvorlesung über die „Ursachen der Rückständigkeit des zaristischen Russland“ halten – doch das Thema missfiel. Ein sowjetischer „Kulturoffizier“ tat seinen Unwillen kund, willfährige Politbonzen machten daraus kurzerhand ein Verbot: Die Antrittsvorlesung fiel aus.
Dennoch wurde Günter Mühlpfordt 1954 – wegen des Weggangs des bisherigen Lehrstuhlinhabers und Institutsdirektors nach Berlin – zum Professor berufen und zum Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte der Universität Halle ernannt. 1956 brachte er Band 1 seines „Jahrbuchs für Geschichte Ost- und Mitteleuropas“ heraus. Seine erklärte Absicht war es, „im Sinn der natürlichen Mittlerfunktion des deutschen Volkes zwischen östlichen und westlichen Ländern“ die Kluft zwischen Ost und West zu schließen, „Brücken zu schlagen“ – das aber war nicht vereinbar mit der auf unversöhnliche Konfrontation zielenden Parteidoktrin. So blieb Band 1 der einzige, der Günter Mühlpfordts Intentionen entsprach.
Dennoch nahm er Rufe anderer DDR-Universitäten nicht an. Halle war und blieb sein Lebensmittelpunkt, auch nach den politisch-ideologisch motivierten Hetzkampagnen, deren Initiator und Hauptakteur Walter Ulbricht war. Infolgedessen wurde er im April 1958 aller universitären Ämter enthoben und mit Lehrverbot belegt, im April 1963 endgültig aus der Martin-Luther-Universität entlassen. Von da an schlug er sich als stellungsloser Privatgelehrter durch. Seine Frau und Mitarbeiterin, die Buchhändlerin Elisabeth Mühlpfordt, geborene Kopp († 1999), stand ihm stets hilfreich zur Seite.
Er wurde oft gefragt, warum er nicht „in den Westen“ gegangen wäre, als es noch ohne Gefahr für Leib und Leben möglich war – sein wissenschaftliches Renommee hätte ihm Tür und Tor geöffnet. Ja, sicher, aber der Wechsel an eine westdeutsche Universität hätte ihn von allen Quellen abgeschnitten, die ihm für seine Forschung wichtig waren. Rastlos arbeitete und publizierte er – Letzteres allerdings nur selten im eigenen Land. Die meisten seiner, schon damals von der Fachwelt mit großem Interesse auf- und angenommenen Abhandlungen, Artikel und Aufsätze erschienen „im kapitalistischen Ausland“: in der alten Bundesrepublik, in Israel, Italien, Kanada und in den USA. Auf manchmal abenteuerlichen Wegen gelang es oft nur mit Hilfe verschwiegener Freunde, Kollegen und Kolleginnen, Manuskripte über die Grenze zu schmuggeln, heraus aus jenem geschlossenen System namens DDR.
Nach der Wende nutzte Günter Mühlpfordt alle Chancen, ein aktives Mitglied der internationalen scientific community zu sein: Er nahm an Tagungen und Kongressen teil, hielt Vorträge, publizierte neueste Erkenntnisse zur Aufklärung und zur Frühen Neuzeit in Europa …
Ende 1997 richteten Universität und Franckesche Stiftungen aus Anlass von Günter Mühlpfordts 75. Geburtstag ein Festkolloquium aus; zeitgleich erschienen die ersten vier von sieben Bänden der von seinem Kollegen und Freund, Osteuropahistoriker Erich Donnert († 2016), herausgegebenen mit rund 6000 Seiten umfangreichsten je einem Gelehrten gewidmeten Festschrift „Europa in der Frühen Neuzeit“.
1999 ehrten die Stadt Magdeburg und die Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg Günter Mühlpfordt für seine Verdienste um die Erforschung der Geschichte des mitteldeutschen Raumes mit dem Eike-von-Repgow-Preis. Der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig eng verbunden, war er zugleich Mitglied der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt, der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften e. V. in Görlitz sowie der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e. V. und pflegte eine weitgespannte wissenschaftliche Korrespondenz.
Im Oktober 2001 veranstalteten die Historische Kommission der Leipziger Akademie und die Martin-Luther-Universität zu Günter Mühlpfordts 80. Geburtstag ein Ehrenkolloquium zum Thema „Universitäten und Wissenschaft in Deutschlands Mitte. Annäherungen an eine historische Bildungslandschaft und deren Ausstrahlung“. Das Interdisziplinäre Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) veranstaltete am 19. September 2011 ein Ehrenkolloquium zum 90. Geburtstag des Gelehrten.
Mit Beginn des neuen Jahrtausends reifte Günter Mühlpfordts Plan, seine über Jahrzehnte verstreut erschienene Publikationen zur mitteldeutschen Aufklärung gesammelt und aktualisiert neu herauszugeben: Seit 2011 erschien im Mitteldeutschen Verlag Halle die von der Fachwelt dankbar begrüßte Schriftenreihe „Mitteldeutsche Aufklärung“ (Band 1: Halle-Leipziger Aufklärung. Kernstück der Mitteldeutschen auf; Band 2: Demokratische Aufklärer I. Bahrdt und die Deutsche Union; Band 3: Demokratische Aufklärer II. Getarnte und offene Radikalaufklärung). – Neben allem Lob wurde aber das (aus Zeitdruck erwachsene) Fehlen von Registern als schmerzliches Desiderat empfunden. Diesem Mangel hilft nun das als Band 4 deklarierte Gesamtregister ab. Ende März, wenige Tage vor seinem Tod, gab ich Günter Mühlpfordt dieses Buch in die Hand und konnte ihm sagen, es ist auf der Leipziger Buchmesse 2017 präsent. Das hat ihn sehr gefreut.
Bis zuletzt arbeitete er an der detailreichen Einleitung zu einem Lebensbild, das der Berliner Historiker Robert Weißmann über seinen Ahnen schrieb, den Martin Luther bekannten und von ihm hochgeschätzten „Zwickauer Reformationsbürgermeister“ Hermann Mühlpfordt. Das Buch erscheint im Juni 2017 im Mitteldeutschen Verlag.
Eine Würdigung des Wirkens von Günter Mühlpfordt von Prof. Dr. Daniel Fulda, Direktor des IZEA, ist auch auf der IZEA-Website zu finden.