Mystische Rituale und Bräuche: Magie in der jüdischen Kabbala

14.09.2020 von Ronja Münch in Wissenschaft, Forschung
Während im Christentum der Glaube an Magie bald als Aberglaube abgetan wurde, was schließlich sogar in Hexen- verfolgungen mündete, vereint die jüdische Lehre der Kabbala mystische Traditionen mit der Religion. Am Seminar für Judaistik der Uni werden in zwei Forschungsprojekten die Ursprünge und Weiterentwicklungen dieser Lehre erforscht und die Schriften eines wichtigen jüdischen Gelehrten untersucht, der magische Rezepte sammelte.
Bill Rebiger und Gerold Necker (rechts) arbeiten mit Informatikern der Uni zusammen, um verschiedene Versionen eines kabbalistischen Traktats vergleichen zu können.
Bill Rebiger und Gerold Necker (rechts) arbeiten mit Informatikern der Uni zusammen, um verschiedene Versionen eines kabbalistischen Traktats vergleichen zu können. (Foto: Maximilian Kröger)

Obwohl religiöse Menschen auf die eine oder andere Art an übernatürliche Kräfte glauben, die ihr Leben beeinflussen, würden vermutlich die wenigsten diesen Glauben mit Magie verbinden. „Im 19. Jahrhundert ist es populär geworden, Magie als Aberglaube zu verdammen und Religion als etwas Rationales zu betrachten“, sagt Prof. Dr. Gerold Necker vom Seminar für Judaistik. Diese Unterscheidung habe es so ursprünglich nicht gegeben. Esoterik, der Glaube an die Wirksamkeit bestimmter mystischer Rituale, Gebete und Symbole, sei Teil vieler Religionen.

Im Judentum wurde im 12. Jahrhundert die Lehre der Kabbala entworfen, die magisch-mystische Traditionen mit Religionstheorie verbindet. Gelehrte erarbeiteten darin Theorien zur Schöpfung der Welt, schlossen aber auch magische Praktiken nicht aus. Am Seminar für Judaistik wird die Kabbala gleich in zwei bis 2021 beziehungsweise 2022 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekten untersucht. „Es gibt eine theoretische und eine praktische Kabbala“, erklärt Necker. Die Theorie widmet sich unter anderem der Schöpfungsgeschichte. Sie beginnt mit der Selbstoffenbarung Gottes in seinen zehn Wirkungskräften. Nach der Vorstellung der meisten Kabbalisten ab dem 16. Jahrhundert musste sich Gott, um Platz für die Welt zu schaffen, zunächst in sich zusammenziehen. Doch dabei kam es zu einer „Katastrophe“, die neue Welt nahm das göttliche Licht nicht richtig auf, göttliche Funken fielen in die Welt. Die Aufgabe der Menschheit sei es daher, „die göttlichen Funken zurückzubringen“, so Necker. „Das ist eine Weltanschauung, in der das eigene Leben einen Sinn ergibt.“

Magische Amulette, Liebeszauber und Religion

Unter anderem, um diesem Auftrag nachzukommen, hat die Kabbala auch eine praktische Seite. Sie umfasste Gebete, mystische Rituale und Bräuche. Die Bezeichnung „praktische Kabbala“ ist aber auch ein Synonym für Magie. Dabei spielten etwa hebräische Buchstaben eine große Rolle, denen eine magische Kraft zugeschrieben wird, ebenso wie bestimmten heiligen Namen. In der praktischen Kabbala „ging es auch um den Alltag der Menschen“, so Necker. Ihre täglichen Probleme wie Krankheiten oder Kindersterblichkeit. Im Judentum sei immer wieder ausdiskutiert worden, welche Ausprägungen der Magie im religiösen Sinne seien, doch pauschal verurteilt wurde sie nicht. Um Kindersterblichkeit zu reduzieren, wurden Frauen Amulette auf den Bauch gelegt, gegen Krankheiten wurden Engel beschworen und es gab auch Liebeszauber. „Das deckte den ganzen Bereich der menschlichen Bedürfnisse ab“, sagt Necker.

Verbreitet wurden die Lehren der Kabbala nicht nur in komplizierten Schriften, sondern auch in recht einfach verständlichen Traktaten. Einer davon ist Keter Shem Tov, die „Krone des guten Namens“. Die erste Version des Textes stammt aus dem 13. Jahrhundert, der Traktat wurde jedoch über die Jahrhunderte immer wieder umgeschrieben – je nachdem, wie sich die Lehre entwickelte und worauf der jeweilige Schreiber besonderen Wert legte. „Keter Shem Tov war als Einführung in die Kabbala gedacht“, sagt Dr. Bill Rebiger, der an dem DFG-Projekt zur systematischen Erfassung dieser Schriften beteiligt ist.

Für das Forschungsprojekt kooperiert die Judaistik mit Prof. Dr. Paul Molitor vom Institut für Informatik. Ziel ist es, eine sogenannte synoptische Edition des Keter Shem Tov zu erstellen. Das bedeutet, dass sich verschiedene Editionen des Traktats mithilfe einer dafür entwickelten Software direkt vergleichen und durchsuchen lassen. Etwa 100 Handschriften werden dafür erfasst, die Texte werden außerdem ins Englische übersetzt und später sowohl in Buchform als auch als Open Access-Version online angeboten. „Man kann damit sehr schön zeigen, wie der Text aus dem 13. Jahrhundert immer wieder neu verwendet wurde“, sagt Rebiger. Interessant sei das nicht nur für judaistische, sondern auch für historische Studien. In die kabbalistischen Texte flossen immer wieder auch philosophische Ideen ihrer Zeit. Zudem interessierten sich auch Christen für die Kabbala, es entstanden sogar eigene, christliche Versionen der Lehre.

Ein Rabbiner, der magische Rezepte sammelt

In einem Brief an seinen Schüler erklärt Rabbi Moses Zacuto diesem, wie er ein magisches Amulett für sein krankes Kind herstellen kann.
In einem Brief an seinen Schüler erklärt Rabbi Moses Zacuto diesem, wie er ein magisches Amulett für sein krankes Kind herstellen kann. (Foto: From the collections of: The British Library)

Einer der jüdischen Gelehrten, die die Kabbala weiterentwickelt haben, ist Moses Zacuto (1610-1697), Rabbiner von Venedig und Mantua. In einem zweiten DFG-Projekt untersucht Necker zusammen mit dem israelischen Professor Yuval Harari von der Ben-Gurion-Universität, wie der Gelehrte systematisch Wissen über Magie sammelte und inwiefern er das in Verbindung zur Kabbala brachte. Zacuto sammelte beispielsweise magische Namen, die für Amulette oder Beschwörungsformeln genutzt wurden. In Briefen an seine Schüler rät er zu magischen Rezepten. „Es gibt einen Brief, darin schickt er einem Schüler, dessen Tochter krank ist, ein Rezept zur Herstellung eines Amuletts“, sagt Necker.

Zacuto war laut Necker ein eher konservativer Gelehrter. Er bezog sich auf möglichst ursprüngliche Kabbala-Versionen. Trotzdem entwickelte er die Lehre weiter, schrieb neue Kommentare zu den wichtigsten kabbalistischen und religionsgesetzlichen Werken, dichtete und war offenbar ein großer Liebhaber neu aufkommender Rituale wie mitternächtlicher Gebetskreise.

Während in Israel in dem DFG-Projekt Manuskripte mit magischen Ritualen und Namen untersucht werden, konzentrieren sich die halleschen Judaisten auf die religionsgesetzlichen Schriften und die Briefe des Rabbis. „Wir wollen mehr dazu herausfinden, wie er theoretische und praktische Kabbala, also mystische Auslegungstradition und Magie verbindet“, sagt Necker. Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass er in seinen Kommentarwerken wenig Bezug darauf nimmt. Anders sei das aber offenbar bei seinen Antworten auf Fragen von Gläubigen oder in seiner privaten Korrespondenz, so Necker. Hier finden sich mehr Bezugspunkte zur Magie.

Für Necker ist das Eintauchen in die alten Schriften nicht nur aus religionswissenschaftlichen Aspekten interessant. „Es bietet einen neuen Zugang zur Alltagsgeschichte“, sagt er. Die mitternächtlichen Gebetsrunden etwa hätten damals Kaffee populär gemacht. Zacuto schrieb diesem sogar Heilkräfte zu. Nur wenn man sich die damalige Zeit vorstelle, mit der gesamten Lebenswelt, könne man auch die religiösen Schriften einordnen und verstehen, sagt der Wissenschaftler.

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Judaistik

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