Lichtgeschwindigkeit im Computer
Dr. Viktoriia Rutckaia hatte es noch nach New York geschafft, bevor das Coronavirus SARS-CoV-2 die amerikanische Großstadt lahmlegte. Zwei Jahre sollte ihr Forschungsaufenthalt dauern, im März fing sie im Advanced Science Research Center an zu arbeiten. Doch zwei Wochen später wurden Universitäten und Labore geschlossen. „Alle wurden angewiesen, von zu Hause aus zu arbeiten“, so die Physikerin. Da habe sie sich entschlossen, wieder zurück nach Halle zu gehen, bis die City University of New York, zu der das Center gehört, wieder öffnet.
Doch auch von Halle aus kann die 30-Jährige weiterarbeiten. „Ich bespreche gerade mit Theoretikern mein Projekt, die mir die topologische Photonik erklären“, sagt sie. Topologische Photonik, das bedeutet, den Weg des Lichts mit Hilfe von Nanostrukturen gezielt zu kontrollieren. Und genau dafür wollte sie nach New York, wo der renommierte Physiker Prof. Dr. Andrea Alù am Advanced Science Research Center eine Forschungsgruppe für Photonik aufgebaut hat.
Photonen statt Elektronen
„Wir steuern auf das Limit der Datenübertragung zu“, erklärt Rutckaia den Hintergrund ihrer Forschung. Hochleistungsserver von Internetgiganten oder selbstfahrende Autos haben einen Bedarf an extrem schnellen Datenströmen, der die bisher übliche elektrische Übertragung innerhalb der Geräte an Grenzen bringt. Die Alternative: optische Übertragung wie bei Glasfaserkabeln, nur eben auf der Größenskala von Mikro- und Nanometern. Photonik nennt sich das, weil statt Elektronen, den Teilchen des elektrischen Stroms, Photonen genutzt werden, Teilchen des Lichts. Das Ziel: Datenübertragung in wortwörtlicher Lichtgeschwindigkeit. Das Problem ist, dass Photonen wesentlich schwieriger zu kontrollieren sind als Elektronen. Sie lassen sich ungern „einsperren“, Elektronen hingegen bewegen sich bevorzugt entlang elektrischer Leiter.
Bisher hat Rutckaia sich mit nanoskopisch kleinen Schaltelementen beschäftigt, die in optischen Microchips eingesetzt werden könnten. 2012 hat sie ihre Doktorarbeit in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Jörg Schilling am Institut für Physik begonnen. Im Zentrum für Innovationskompetenz SiLi-nano der MLU untersuchte sie unter anderem mit Lasern nanoskopisch kleine Siliziumstrukturen. Darin enthaltene Germanium-Partikel werden durch das Laserlicht angeregt und fluoreszieren, das heißt sie senden ihrerseits wieder Photonen aus. „Wir versuchen die Strukturen so zu verändern, dass sie Photonen nicht breit in alle Richtungen aussenden, sondern gezielt und nur über einen ganz begrenzten Zeitraum“, erklärt Rutckaia. Das sei wichtig, um beispielsweise schnell ein Signal für 1 oder 0 übertragen zu können.
Ihre Dissertation hat die Physikerin 2018 verteidigt, seitdem ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin angestellt. „Nach meiner Doktorarbeit hatte ich das Gefühl, dass es Zeit ist, mich selbst zu beweisen“, sagt sie. Deswegen hat sie eine individuelle Förderung der EU eingeworben. Über die Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen erhält Rutckaia 240.000 Euro, die sie ganz nach Belieben einsetzen kann. „Die Förderung hat mir die Freiheit gegeben, mir weltweit eine Arbeitsgruppe auszusuchen“, sagt sie. Mit dem Geld kann sie außerdem ihre eigene Forschung betreiben. Zum ersten Mal, wie sie sagt. Bisher habe sie immer in den Projekten anderer mitgearbeitet. „Jetzt muss ich mich selbst organisieren. Ich muss entscheiden, wie ich das Geld einsetze – für Konferenzen, Materialien und so weiter.“
Alle Facetten des Lichts kontrollieren
Die Arbeitsgruppe von Andrea Alù in New York gebe ihr die Möglichkeit, ihre Expertise zu erweitern. Denn was in Halle möglich sei, die Wellenlänge und Intensität von Licht zu kontrollieren, werde dort durch die Möglichkeit ergänzt, auch die Richtung des Lichts zu kontrollieren. Bekannt geworden ist Alù mit einer Art Umhang, der unsichtbar macht – jedenfalls für eine bestimmte Wellenlänge des Lichts. Mit einer Reihe von Nanostrukturen wird das Licht gezielt umgeleitet und gebrochen. Die Technik könnte auch genutzt werden, um Photonen für die Datenübertragung auf ganz speziellen Pfaden zu leiten. „Bisher müssen Glasfaserkabel möglichst gerade verlegt werden“, erklärt Rutckaia. Wird das Kabel geknickt, kommt es zu Streuverlusten. Je kleiner die Leitungen für das Licht – sogenannte Wellenleiter - werden und je enger und platzsparender sie aneinander gepackt werden, desto gravierender werden die Verluste. Die topologische Photonik könnte verhindern, dass die Photonen aus den Leitungen „ausbrechen“.
Ihr Start in der Arbeitsgruppe von Alù sei sehr schön gewesen, erzählt Rutckaia. „Ich wurde gleich in Gruppendiskussionen eingebunden, zum Beispiel darüber, was wir für Equipment anschaffen sollten“, sagt sie. Ihr Training im Reinraum, den man nur nach einer Einweisung allein nutzen dürfe, hatte auch schon begonnen. Doch damit ist es nun erst einmal vorbei. So schlimm sei das allerdings nicht, so Rutckaia. Mehrmals pro Woche gebe es Meetings zu den laufenden Projekten. „Es ist schön, zu sehen, wie die Menschen ohne Büro und Experimente trotzdem mit demselben Enthusiasmus arbeiten“, so die Physikerin. Und sie sieht auch ganz praktische Aspekte ihrer Heimarbeit. „Wenn ein Meeting in New York um 9 Uhr losgeht, dann ist es hier um 15 Uhr, das kann ich auf jeden Fall nicht verschlafen.“ Außerdem mache sie virtuelle Experimente mit sogenannten numerischen Modellen. Damit lassen sich beispielsweise verschiedene Parameter für die Nanostrukturen einstellen und optische Antworten messen. „Mit numerischen Modellen spart man Zeit. Man muss nicht alle Strukturen herstellen und messen, sondern nur die, die sich am besten eignen.“
Halle - klein aber fein
Dass sie mehr Zeit in Halle verbringt als geplant, kennt Rutckaia im Übrigen schon. „Als ich hier angefangen habe, dachte ich, das wird eine kurze und nicht so wichtige Phase in meinem Leben. Aber da habe ich mich sehr geirrt“, sagt sie heute. Ursprünglich wollte sie nur ihre Doktorarbeit hier schreiben, wurde dann jedoch positiv überrascht. Es gebe in Halle erstaunlich viele wissenschaftliche Einrichtungen dafür, dass die Stadt relativ klein sei. Rutckaia kommt aus Sankt Petersburg, einer Stadt mit mehr als fünf Millionen Einwohnern. In Halle könne sie sich viel besser auf ihre Arbeit fokussieren und habe trotzdem noch viel Zeit für Hobbys und Freunde. Alles sei in der Nähe, ihr Arbeitsplatz an der Uni fünf Minuten von ihrem Wohnort entfernt, zur Innenstadt fahre sie auch nur fünfzehn Minuten mit dem Rad.
Deswegen will sie, wenn sie ihren zweijährigen Forschungsaufenthalt in New York beendet hat – wenn auch hoffentlich nicht nur virtuell – in Halle bleiben. Und das nicht nur für das eine Jahr, das sie weiter gefördert wird. Das Programm sei eine gute Basis für ihre weitere Karriere. Vielleicht, sagt Rutckaia, könne sie dann hier ihre eigene kleine Arbeitsgruppe aufbauen.