Geschichten aus der Gruft
Der berühmte Stadtchronist Gottfried Olearius, die Eltern des Mediziners Friedrich Hoffmann, die Vorfahren Georg Friedrich Händels – sie alle sind auf dem Stadtgottesacker begraben. Hier ruht seit dem 16. Jahrhundert die hallesche Oberschicht: Ratsherren, Bürgermeister, Schöffen, Juristen, Mediziner und hochgestellte Theologen. Reiche Familien finanzierten ab 1529 den Bau des Friedhofs mit seinen mehr als 90 Schwibbögen, unter denen die eigentlichen Grüfte liegen. „Der Stadtgottesacker ist einmalig in Europa“, sagt Prof. Dr. Klaus Krüger. Die Anlage wurde nach dem Vorbild eines italienischen Camposanto errichtet. Dabei handelt es sich um eine hofartig umschlossene Anlage mit nach innen offenen Bogengängen. Zwar wurden im 16. Jahrhundert einige solcher Friedhöfe in Mitteldeutschland angelegt – etwa in Leipzig, Altenburg und Eisleben. In Gänze erhalten ist jedoch nördlich der Alpen nur noch der Gottesacker in Halle. „Heute gilt er als Prototyp eines protestantischen Friedhofs“, sagt Krüger.
Die Idee, sich wissenschaftlich mit dem bedeutenden Friedhof auseinanderzusetzen, kam Krüger bereits im Jahr 2002, als er seinen Dienst an der MLU antrat. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört seit jeher die Begräbniskultur. Deshalb sei ihm auch schnell die Idee gekommen, den Stadtgottesacker mit Studierenden zu erforschen, so der Wissenschaftler. 2003 fand die erste Lehrveranstaltung zum Thema statt, es sollten weitere folgen, denn das Projekt war deutlich umfangreicher, als Krüger es zunächst gedacht hatte. Unterstützt wurde er durch die Mitarbeiter der Arbeitsstelle „Deutsche Inschriften“ der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, die ihren Sitz in Halle hat. Sie brachten das nötige technische Fachwissen für die Anfertigung der Fotoaufnahmen wie auch das entsprechende Hintergrundwissen zu Inschriften insgesamt ein. Denn um an die Informationen darauf zu gelangen, musste die Gruppe um Krüger die Inschriften nicht nur entziffern, sondern auch übersetzen. Die Texte sind im barocken Latein gehalten, was die Übersetzung sehr komplex macht, wie Krüger sagt: „Das war das schwierigste Latein meines Lebens.“
Zunächst waren Grabinschriften Erinnerungen an die hiesigen Geistlichen, für das Seelenheil der Toten zu beten. „Das kann man sich wie einen richtigen Vertrag vorstellen“, erklärt Krüger. Der oder die Stifterin vermachte der Kirche einen großen Betrag, mit dem die Geistlichen und die Anlage bezahlt werden sollten. Im Gegenzug dazu verpflichtete sich die Kirche, bis zum Tag des Jüngsten Gerichts für das Seelenheil der Mäzene beten zu lassen. Stein ist, anders als Pergament, nahezu unvergänglich. Deshalb wurden diese Verträge nicht auf Papier festgehalten, sondern wortwörtlich in Stein gemeißelt. Krüger: „Die Inschriften machen dieses Abkommen für alle Zeit sichtbar.“
Ihre Bedeutung änderte sich jedoch im Zuge der Reformation: „Luther stellte die bisherigen Vorstellungen infrage und sagte, dass das Gebet keinen Einfluss auf das Seelenheil hat. Es ist völlig egal. Allein Gott entscheidet über die Erlösung“, so Krüger. Nur der individuelle Glaube könne dabei helfen, ins Paradies zu gelangen. Mit der Reformation änderte sich deshalb nicht nur die Rolle der Geistlichen, sondern auch die der Gräber. „Sie sind vielmehr zu Orten der persönlichen Andacht an die verstorbene Person geworden“, sagt Krüger. Diesen Wandel könne man auch am Stadtgottesacker sehen. Die Inschriften vor 1540, als Halle protestantisch wurde, sind noch vom alten Typ, aber dann ändern sich die Texte grundlegend. Auf den Grabsteinen aufgelistet sind seitdem Angaben zur Hochzeit, zu Kindern und weiteren wichtigen Lebensstationen – und natürlich Besitzanzeigen, welcher Familie ein bestimmter Bogen gehört. „Dabei handelt es sich im Grunde um personenbezogene Daten, die wir aus dieser Zeit in dieser Dichte nur hier finden können“, sagt der Historiker.
Nach fast 18 Jahren wurde das Projekt nun mit einer Veröffentlichung im Wissenschaftsverlag De Gruyter abgeschlossen. Die Grabinschriften sind für die Forschung nicht nur von Interesse, um individuelle Biographien nachzuzeichnen. Durch die vielen Querverweise auf weitere Personen oder Familien entsteht in der Gesamtheit ein umfangreiches Beziehungsnetzwerk, das sich mit den Texten aufdecken lässt. Insgesamt haben Krüger und seine Mitstreiter rund 850 Personen – 520 Männer und 320 Frauen – aus der Zeit von 1550 bis 1700 identifiziert und die Daten in der umfangreichen Publikation zusammengetragen. Sämtliche Bögen, Grabmäler und Grabplatten hat das Team hochauflösend fotografiert und ebenfalls frei zur Verfügung gestellt. Damit stehen die Erkenntnisse und das Material allen an der Stadtgeschichte Halles Interessierten frei zur Verfügung.
Das Buch
Klaus Krüger (Hrsg.): Die Inschriften des Stadtgottesackers in Halle an der Saale (1550–1700). Quellen zum Bürgertum einer Stadt in der frühen Neuzeit. Berlin 2021, 560 S., 99,95 Euro (geb.), ISBN: 978-3050064208
Online frei verfügbar unter: https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110700145/html