In Halle wider Willen

20.02.2024 von Prof. Dr. Patrick Wagner, Katharina Krüger in Wissenschaft, Forschung
Im Zweiten Weltkrieg machten ausländische Arbeiterinnen und Arbeiter etwa zehn Prozent der Bevölkerung Halles aus. Die meisten von ihnen waren Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter. Ihr Leben und ihre Verbindungen zu den Einheimischen stehen im Zentrum eines Forschungsprojekts am Institut für Geschichte. Prof. Dr. Patrick Wagner und Katharina Krüger berichten hier über erste Ergebnisse. Am 28. Februar stellen sie das Projekt in einem Vortrag vor – sie suchen jetzt private Quellen.
Im Saal im "Reichshof", dem heutigen Volkspark, standen 1941 dutzende Doppelstockbetten für Arbeiter.
Im Saal im "Reichshof", dem heutigen Volkspark, standen 1941 dutzende Doppelstockbetten für Arbeiter. (Foto: LASA, MER, I 525, FS Nr. G 50756)

Im Juli 1944 wurde der 25-jährige Niederländer Jacob B. vom halleschen Sondergericht zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt, weil er auf dem illegalen Schwarzmarkt einen – so das Urteil – „schwunghaften Handel mit Lebens- und Genussmitteln“ betrieben hatte. Zu diesem Zeitpunkt lebten und arbeiteten fast 50.000 Ausländerinnen und Ausländer in der Stadt Halle und in ihrem Umland, um die Kriegswirtschaft am Laufen zu halten. Es handelte sich um eine sehr heterogene Gruppe, die von aus der Sowjetunion oder Polen nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern über Kriegsgefangene – zumeist Franzosen – bis zu Zivilarbeitern aus der verbündeten Slowakei reichte.

Die Bedingungen, unter denen diese Menschen während des Zweiten Weltkrieges in Halle und Umgebung lebten, stehen im Mittelpunkt eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes, das seit Mitte 2022 am Institut für Geschichte läuft. Erste Ergebnisse und Einblicke in die Arbeit mit dem Quellenmaterial wurden bei einer Veranstaltung des Landesarchivs in Merseburg vorgestellt.

Katharina Krüger
Katharina Krüger (Foto: privat)

Das Material ist gerade im Landesarchiv reichhaltig und vielfältig; eine vom Archiv erstellte Übersicht listet auf 109 Seiten Akten von Behörden, Gerichten und Betrieben auf, die zwischen 1939 und 1945 im Zuge des „Arbeitseinsatzes“ von „Fremdvölkischen“ – so die Termini der Nationalsozialisten – angelegt wurden und erhalten geblieben sind.

Exemplarisch seien hier genannt die Akten des Sondergerichts und der Mansfelder Aktiengesellschaft, zu der seit 1927 auch die Hallesche Pfännerschaft und damit die Saline gehörte. Schon im März 1939, also noch vor Kriegsbeginn, beantragte die Pfännerschaft beim Arbeitsamt Halle die Zuteilung ausländischer Arbeiter. Die Aufrüstung hatte zu diesem Zeitpunkt längst zu einem eklatanten Arbeitskräftemangel geführt, und dieser verschärfte sich im Krieg weiter, weil immer mehr deutsche Arbeiter zur Wehrmacht einberufen wurden und zugleich die Rüstungsproduktion gesteigert werden sollte. In den Akten der Pfännerschaft sind für die Kriegszeit nicht nur der Einsatz ausländischer Arbeitskräfte, sondern auch deren Widerstandsakte, Fluchten und gegen sie verhängte Strafen dokumentiert. Als beispielweise zwölf französische Zivilarbeiter im Sommer 1941 die Arbeit bei der Pfännerschaft verweigerten, wandte sich diese an die Geheime Staatspolizei. Die Gestapo ließ den Arbeitern „ernste Verwarnung zuteilwerden“, sprich: sie drohte ihnen mit der Inhaftierung in einem sogenannten „Arbeitserziehungslager“. Daraufhin nahmen die Franzosen die Arbeit wieder auf, „wenn auch nicht mit gewünschter Leistung“, wie die Pfännerschaft mäkelte.

Deutlich mehr als ein Zehntel der während des Zweiten Weltkrieges in Halle lebenden Menschen war – in der großen Mehrheit gegen ihren Willen – aus dem Ausland zur Arbeit hierhergebracht worden. Die Menschen lebten in über 100 kleinen oder großen Wohnlagern, die über das ganze Stadtgebiet verteilt waren, arbeiteten in denselben Betrieben wie viele Hallenserinnen und Hallenser, bewegten sich im öffentlichen Raum und prägten das Stadtbild mit. Daher liegt ein Schwerpunkt des Forschungsprojekts auf der Frage, wie diese „Fremdvölkischen“ und die anderen Stadtbewohner einander wahrnahmen und miteinander umgingen. Die Kontakte zueinander waren mannigfach – zu den Kunden des eingangs erwähnten „Schwarzhändlers“ Jacob B. hatten wohl auch Deutsche gehört, die sich so knappe und vom NS-Regime rationierte Waren verschafften. Vor seiner Verhaftung hatte der Holländer in Halle als Kraftfahrer gearbeitet, in einem möblierten Zimmer gewohnt und in Gaststätten wie dem „Berliner Hof“ (Berliner Straße) und dem „Sedan“ (Am Steintor) verkehrt. In Gang kam das Verfahren gegen B., wie zahlreiche andere auch, durch eine Denunziation.

Patrick Wagner
Patrick Wagner (Foto: Maike Glöckner)

Hier wird deutlich, dass gerade die Akten der NS-Justiz viele Informationen über verbotene (Schwarzhandel), aber auch ganz undramatische (Gaststättenbesuch) Kontakte zwischen ausländischen Zivilarbeiterinnen und -arbeitern, Kriegsgefangenen und Deutschen bieten. Allerdings entsprach das Profil der vor dem Sondergericht Angeklagten nicht jenem der ausländischen Arbeiterschaft insgesamt. Vielmehr waren vor Gericht Menschen aus Polen und der Sowjetunion – letztere bildeten die größte Teilgruppe unter den Ausländern – stark unterrepräsentiert. Sie wurden oftmals schon bei kleineren Delikten ohne Gerichtsverfahren von der Gestapo durch Erhängen ermordet.

In Halle fand eine bislang nicht exakt bestimmbare Zahl solcher Hinrichtungen auf dem Gelände der Halleschen Pfännerschaft an der Mansfelder Straße 21 statt. Zu Forschungszwecken waren hier auch Angehörige der Medizinischen Fakultät anwesend, einer von ihnen, Siegfried Krefft, beschrieb die Exekutionen minutiös in seiner Dissertation „Über die Genese der Halsmuskelblutungen beim Tod durch Erhängen“.

Die Archivmaterialien bieten bereits eine solide Quelle für das aktuelle Forschungsprojekt, aber sie weisen auch viele Leerstellen auf. Daher wird jetzt noch nach Dokumenten im Privatbesitz gesucht, zum Beispiel nach Fotografien, niedergeschriebenen Erinnerungen von Hallensern und Hallenserinnen oder in den Familien tradierten Erzählungen. Wo finden sich zum Beispiel Informationen zu ausländischen Haushaltshilfen? Was geschah mit den hier geborenen Kindern der ausländischen Arbeiterinnen? Einige der vom Sondergericht Halle wegen verbotener Liebesbeziehungen mit Kriegsgefangenen verurteilten deutschen Frauen waren schwanger. Haben ihre Kinder jemals etwas über diesen Teil der Lebensgeschichte erfahren? Alle Informationen werden vertraulich und sensibel behandelt. Auf Wunsch können Namen von beteiligten Personen anonymisiert werden.

Die Forschenden

Der Vortrag zum Forschungsprojekt „Lebensrisiken, soziale Beziehungen und Topographie der ,fremdvölkischen‘ Klasse in der Stadtgesellschaft von Halle (Saale), 1939-1945“ findet am Mittwoch, 28. Februar, 18 Uhr auf dem Steintor-Campus, Hörsaal II, in der Emil-Abderhalden-Straße 28 statt.

Prof. Dr. Patrick Wagner hat seit 2006 die Professur für Zeitgeschichte an der MLU inne. Das Projekt wird maßgeblich von der Historikerin Katharina Krüger durchgeführt, die an seinem Lehrstuhl für ihre Dissertation forscht. Wer Informationen zu den am Textende aufgeführten oder ähnlichen Fragen beisteuern kann, wird gebeten, sich bei ihr zu melden: katharina.krueger@geschichte.uni-halle.de

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Geschichte

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