„Afrika wird oft als Kontinent betrachtet, der in keinem Zusammenhang mit Europa steht“

Sie haben erstmals gemeinsam eine Summer School unter dem Titel „Wissenszirkulationen und Erinnerungspraxen zwischen Afrika & Europa“ organisiert. Worum ging es genau?
Steffen Hendel: Afrika wird im Gegensatz zu den Amerikas und Asien oft als Kontinent betrachtet, der in keinem Zusammenhang mit Europa steht, außer mit Blick auf Migration und Flucht. Dabei gibt es eine jahrhundertelange transkontinentale Zirkulationsgeschichte von Wissen, Waren, Ressourcen und Menschen – allein die tirailleurs sénégalais, die Kolonialsoldaten, die aus West- und Zentralafrika im Zweiten Weltkrieg (zwangs)rekrutiert wurden, um an Frankreichs Fronten gegen NS-Deutschland eingesetzt zu werden, und später in Erinnerung und Entlohnung diskriminiert wurden. Wir haben versucht zu erfassen, welche Wissensbestände zwischen Europa und Afrika zirkulieren, Expertisen zusammenzutragen und den Blick für systematische Zusammenhänge zu öffnen.
Natascha Ueckmann: Diskutiert wurden historische wie gegenwärtige Perspektiven – von Restitutionsdebatten über die Rolle von Erinnerungsorten bis hin zur digitalen Analyse kolonialer Literatur. Ein wichtiger Schwerpunkt unserer Summer School war der deutsche Kolonialismus – Togo gehörte zu den vier Kolonien Deutschlands in Afrika. Wir haben uns auch mit deutschen Kulturmittlern beschäftigt, die afrikanische und afro-karibische Autorinnen und Autoren in Europa bekannt gemacht haben, ebenso wie mit den Herausforderungen von Provenienzforschung, also der Untersuchung der Herkunft von Kulturgütern und Human Remains und deren Rückgabe. So wurde deutlich, wie Wissen in Form von Kolonialphotographien, Filmmaterial und Kulturgütern zwischen Afrika und Europa zirkulierte – von den Askari, den einheimischen Soldaten in den Kolonialtruppen Ostafrikas, bis zu Schwarzen Menschen in Konzentrationslagern im Nationalsozialismus – und welche dunklen Seiten dieser Geschichte(n) existieren. Wiedemann ging dem Begriff „Askari“ in mehreren Verbrechenskontexten nach: deutsche Kolonialzeit, Nationalsozialismus und Apartheid Südafrika.
Wie ist die Idee zur Summer School entstanden?
Ueckmann: Die Idee zur Summer School entstand aus unserem Projekt ‚Eine Uni – ein Buch‘ von 2023/24, bei dem wir uns mit „Den Schmerz der Anderen begreifen“ von Charlotte Wiedemann beschäftigt haben. Unsere Kolleginnen und Kollegen in Togo waren sofort interessiert, und die Erasmus+-Kooperationen mit den Universitäten Lomé und Kara in Togo machten den strukturierten Austausch möglich.
Hendel: Die Erasmus-Kooperation erlaubt, dass Lehrende während des Semesters hin- und herreisen und die Lehre hier wie dort internationalisieren. Mein Ziel war, die Gespräche, die sich über Jahre entwickelt hatten, konzentriert weiterzuführen. So entsteht ein Mehrwert an Erkenntnis und eine Form, in der wir die vielen komplexen Fragen gemeinsam bearbeiten können.
Was macht diese Summer School besonders?
Ueckmann: Die Summer School war stark international ausgerichtet, aber auch interdisziplinär. Teilnehmende aus Romanistik, Germanistik, Komparatistik, Slavistik, Amerikanistik und Ethnologie der MLU, der Afrikanistik anderen deutscher Universitäten sowie Akteurinnen und Akteure aus der Praxis wie Journalistin Charlotte Wiedemann und Filmemacher Jürgen Ellinghaus machten das Programm besonders vielfältig. Zudem haben wir Studierende, Nachwuchs- und etablierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler intensiv eingebunden. Die Summer School hat uns Raum gegeben, die Themen lebendig zu erarbeiten und kontrovers zu diskutieren. Das war ein sehr produktiver Austausch mittels diverser Formate: Workshops, Vorträge, Filmvorführungen oder Poster-Session.
Ein weiterer Programmpunkt war das „Bücher-Speed-Dating“ mit Kinderbüchern der DDR über Afrika. Was hat sich an diesen gezeigt?
Hendel: Bereits in der frühen DDR gab es Bestrebungen, antikolonial zu agieren – etwa durch das Entfernen von kolonialen Denkmälern, die Umbenennung von Straßen oder durch eine neue, kontinentübergreifende, „antiimperialistische“ Kinder- und Jugendliteratur. Mit Studierenden aus Dakar, Lomé, Kara und Halle haben wir untersucht, wie „Anderssein“ in diesen Büchern verhandelt wird und ob sie eine kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialvergangenheit leisten. In den 1960er Jahren wurde zum Beispiel Ludwig Renns Buch "Nobi" neu veröffentlicht und es wurden darin - auch im Titel - diskriminierende Begriffe ersetzt beziehungsweise gestrichen, um die antirassistische Intention konsequent umzusetzen. Wir konnten feststellen: Die Kinder- und Jugendliteratur der DDR wollte offen und weltzugewandt sein. Sie stellt sich gegen Rassismus und Kolonialismus.
Im Rahmen der Summer School fand auch eine Book Launch statt, in der Sie das Buch „Reprendre le voir“ („Das Sehen wieder aufnehmen“) vorgestellt haben. In welchem Verhältnis steht das Buch zur Summer School?
Ueckmann: Beide – Buch wie Summer School – hinterfragen stereotype Blickhierarchien: Wer schaut wen an? Wer hat das Recht, über wen zu sprechen? Wer beschreibt sich selbst und wer wird beschrieben? Diese Fragen betreffen sowohl den Blick auf Afrika als auch die in Europa kursierenden Bilder muslimischer Mädchen und Frauen, die im Buch analysiert werden. Es ist im Rahmen des EU-Projektes „Re-Visualize: Gender und Islam im digitalen frankophonen Raum“ entstanden, ein Projekt zwischen Belgien, Frankreich, den Niederlanden und Deutschland. Ziel war die Sichtbarmachung muslimischer Frauen in digitalen und medialen Öffentlichkeiten durch Ausstellungen, audio-visuelle Autoportraits und die Publikation.
Dieses Projekt war eng mit der Arbeit von Dimitri Almeida verbunden. Welche Impulse hat er für das Projekt und für Ihre Arbeit an der MLU gegeben?
Ueckmann: Der viel zu früh verstorbene Kollege Dimitri Almeida, der damals die Juniorprofessur für Inter- und Transkulturelle Studien an der MLU innehatte, initiierte das EU-Projekt. Er hat es stark geprägt – mit seiner inter- und transdisziplinären Sichtweise, die Politik- und Kulturwissenschaft zusammenbringt, und mit seinem Blick auf Grenzräume als produktive Spannungsfelder, in denen Neues entstehen kann. Dimitri hat mir das Projekt noch persönlich übertragen, obwohl es nur mittelbar mein Thema war. Das hat mich sehr berührt – und darin bestärkt, seine Idee weiterzuführen. Besonders beeindruckend und inspirierend war auch seine offene, mehrsprachige und sehr studierendenzentrierte Lehre. Er hatte den Mut, neue Genres und digitale, urbane sowie postkoloniale Räume in Forschung und Lehre einzubeziehen und sie als Werkzeuge der Erkenntnis zu nutzen. Bis zuletzt begeisterte er als präziser, zugewandter Lehrer und Forscher.
Teil des Projekts war auch die Entwicklung von Lehrmaterialien für die Schule.
Ueckmann: Genau. Drei Jahre lang haben sich die Universitäten Louvain Saint-Louis Bruxelles, Amsterdam, Lorraine (Metz) und die MLU sowie der Verein Plurivers’elles damit beschäftigt, wie Bilder produziert, interpretiert und verwendet werden, insbesondere in Bezug auf ihre geschlechtsspezifischen, religiösen und feministischen Dimensionen. Professorin Katharina Wieland, unsere studentischen Hilfskräfte und ich haben daraus vier didaktische Einheiten erstellt. Die Herausforderung war, ein Material für den Französischunterricht an Gymnasien und Hochschulen zu entwerfen, das zugleich in Deutschland, Frankreich, Belgien und in den Niederlanden einsetzbar ist. In mehreren Lehrkräftefortbildungen in Magdeburg und Halle haben wir die didaktischen Einheiten getestet und von externen Expertinnen und Experten evaluieren lassen.
Kommen wir zurück zur Summer School und der Zusammenarbeit mit Ihren afrikanischen Kolleginnen und Kollegen. Wie geht es weiter?
Hendel: Es war eine sehr intensive Woche mit vielen Eindrücken und zahlreichen neuen Kontakten, aus denen sicher Kooperationen und gemeinsame Forschungsarbeiten entstehen werden. In nächster Zeit laden wir wieder punktuell Lehrende aus Togo oder Senegal ein oder reisen selbst in die Länder und unterrichten dort. Und es gibt die Überlegung, andere kürzere Formate auch in Togo stattfinden zu lassen. Ziel ist es, bestehende Wissensbestände weiterhin kritisch zu reflektieren und neue Formen des Dialogs und der Zusammenarbeit zu erproben.
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Kommentare
ALEZA Louise am 13.10.2025 19:36
Es ist ein gutes Projekt, und ich bedanke mich herzlich beim Autor und bei allen, die sich für die Umsetzung dieses Projekts eingesetzt haben.
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Bagoudou Bali am 15.10.2025 20:38
Sehr gut und lehrreich. Ich hoffe, dass wir in der Zukunft andere Veranstaltungen wie diese haben werden.
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