Ein Mann für weite Horizonte: Zum Tode von Peter Hertner
Das Institut für Geschichte und die Philosophische Fakultät I der Martin-Luther-Universität trauern um ihr emeritiertes Mitglied und ihren hochgeschätzten Kollegen Prof. Dr. Peter Hertner, der am 26. April 2023 nach schwerer Krankheit verstarb. Seit seiner Berufung 1995 hat er die Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis zu seiner Emeritierung 2008 mit großer intellektueller Strahlkraft geprägt und ihr mit seinen Forschungen ein internationales Profil verliehen, das Studenten und Doktoranden weite Horizonte und die Welt seiner internationalen Beziehungen eröffnete und zugänglich machte. Peter Hertner selbst gehörte zum wissenschaftlichen Beirat des Deutschen Historischen Instituts in Rom, der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte und der European Association für Banking and Financial History als deren längjähriges Vorstandsmitglied sowie des Comité pour l’histoire de l’electricité (Paris). Die hohe Anerkennung im Fach zeigte sich auch in bedeutenden Mitherausgeberschaften wie der Zeitschrift Società e Storia (Mailand), des Jahrbuchs für Wirtschaftsgeschichte oder als Korrespondierendes Mitglied der Revista di storia economica (Turin).
Sein Weg nach Halle, wo er am längsten gelehrt und geforscht hat, war keineswegs vorgezeichnet und naheliegend. Geboren 1942 in Ulm, studierte er nach dem Abitur in Heidelberg, Besançon, Basel, Strasbourg, Paris und Marburg Volkswirtschaft und Geschichte und promovierte dort nach dem Diplom für Volkswirtschaft mit einer Arbeit über Stadtwirtschaft zwischen Reich und Frankreich: Wirtschaft und Gesellschaft Straßburgs 1650-1714 (1972). Zunächst wissenschaftlicher Assistent in Marburg (1970-1977), wechselte er als Akademischer Rat an das Institut für Geschichte der TH Darmstadt, wo er späterhin schon von Florenz aus mit einer Arbeit über den deutschen Kapitalexport nach Italien und die Entwicklung der italienischen Volkswirtschaft 1861-1894 habilitiert wurde (1986).
Doch schon 1981 wurde Peter Hertner als Forschungsdozent an das Europäische Hochschulinstitut (EUI) in Florenz in die Abteilung für Kulturgeschichte und Geschichte (HEC) berufen und arbeitete seit 1988 als Full Professor bis zur Ernennung als Direktor der Bibliothek des EUI unter Beibehaltung eines External Professorships am HEC.
Mit der deutschen Wiedervereinigung erkannte er sofort und klar die großen wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen, die sich beiden Teilen Deutschlands stellen würden, hatte er sich doch von Beginn an mit Fragen des Transfers wirtschaftlicher Güter, von Produktion, Handel, Finanzen und den Problemen technischer und verwaltungstechnischer Innovation im internationalen Vergleich und internationaler Kooperation und des Transfers in historischer Perspektive beschäftigt. Vor Ort ließ sich dieses genauer verfolgen und analysieren.
Zugleich sah er für sich die Chance, durch einen Wechsel der Professur am Prozess der Wiedervereinigung aktiv gestaltend mitzuwirken. Den Ruf nach Halle hat er denn auch ohne zu zögern und unter Aufgabe einer gewiss einzigartigen Wirkungsstätte mit internationalem Flair angenommen – zum Gewinn der Martin-Luther-Universität und ihrer akademischen Gesellschaft. Seine Weltläufigkeit, unprätentiöse Großzügigkeit und Gabe zu Empathie und nicht zuletzt sein definitiver Umzug nach Halle machten es ihm leicht, sehr rasch Wirksamkeit zu entfalten und weit über sein Fach hinaus Impulse zu geben. Seine gesellig-gelehrten Einladungen zuhause und zu wissenschaftlichen Tagungen vertieften weitverzweigte Freundschaften und stifteten neue; sie verankerten sein Fach fest in das europäische Netzwerk der internationalen Kollegenschaft. Schüler und Kollegen genossen seine Lust am Erzählen – durchzogen von feinem Humor und gelegentlich auch leichter Ironie –, profitierten von seinen künstlerischen und literarischen Interessen und bewunderten seine wahrhaft polyglotte Lebensart, die ausstrahlte und Farbe verlieh.
Sein Forschungsprofil war von Beginn an multinational ausgerichtet mit dem Schwerpunkt auf die Wirtschafts- und Finanzgeschichte. Neben Frankreich rückte sehr rasch Italien im 19. und 20. Jahrhundert in seinen Fokus mit seinen engen Verflechtungen zur deutschen Wirtschaft insbesondere im Bankenwesen und der sich dynamisch entfaltenden Elektroindustrie in der Zeit zwischen den Weltkriegen. Seine bahnbrechenden Untersuchungen dazu werden bis heute als standardsetzend gesehen; stellvertretend seien an dieser Stelle lediglich genannt: Il capitale tedesco in Italia dall'Unità alla Prima Guerra Mondiale. Banche miste e sviluppo economico italiano, Bologna, Il Mulino, 1984, und Global electrification. Multinational enterprise and international finance in the history of light and power, 1878-2007, hg. zusammen mit Wiliam J. Hausman und Mira Wilkins, Cambridge University Press, 2008. Gleiches gilt für seine Untersuchungen zu Europäischen und nationalen Netzwerken in großen Konzernen und Banken und deren internationalen Investments, in die er den osteuropäischen Raum im Blick beispielsweise auf die Finanzierung der Balkan Railways mit einbezog oder späterhin um die interkoninentale Perspektive am Beispiel der Deutsch-Überseeischen Elektrizitätsgesellschaft in Buenos Aires erweiterte.
Mit seinem Standortwechsel nach Halle folgten dann Untersuchungen zur Entwicklung von Industrie und mittelständischer Wirtschaft im Raum Halle, zum Kreditsektor hinsichtlich der hallischen Wirtschaftsentwicklung von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Weltwirtschaftskrise von 1929-33 oder weiter ausgreifend zu regionalen Integrationsperspektiven in Mitteleuropa vom 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts.
Bei alledem haben ihn zugleich die Voraussetzungen, Etablierung und Entwicklung seines Faches an der MLU und ihre Forschungsgeschichte lebhaft interessiert und gleich zu mehreren Veröffentlichungen geführt. Neben der wissenschaftsgeschichtlichen Aufarbeitung des Teilfaches „Wirtschafts- und Sozialgeschichte“ im Kanon der geschichtswissenschaftlichen Teilfächer im Institut für Geschichte, dessen Schicksal in der Zeit des Nationalsozialismus und der DDR besondere Aufmerksamkeit galt, weiteten sich diese Untersuchungen zur Darstellung des Wandels der klassischen Staatswissenschaften im 19. Jahrhundert über die Phase „wirtschaftlicher Staatswissenschaft“ zur Wirtschaftswissenschaft, wie sie schließlich in Halle seit der Zeit um den zweiten Weltkrieg in Halle gelehrt wurde. Damit schloss sich für Peter Hertner ein Kreis, der seinem Fach, das es in Halle nach der Wiedervereinigung neu auszugestalten galt, ein breites Fundament, neue Bedeutung im Fächerkanon und mit seiner Person internationale Anerkennung und wirksame Geltung im Konzert der Stimmen eingebracht hat. Zahlreiche Schüler seiner internationalen akademischen Community halten seine Auffassung von einer multiperspektivisch multinational angelegten Forschung und Lehre und den damit verbundenen Anspruch lebendig und zeugen darüber hinaus von seinem Credo, dass der Wissenschaft stets eine soziale Dimension innewohnt.
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Prof. Dr. Andreas Ranft war von 1995 bis 2017 Professor für die Geschichte des Mittelalters an der MLU, ab 2003 hat er sieben Jahre lang als Dekan seiner Fakultät gewirkt. Dr. Katrin Moeller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte und Leiterin des Historischen Datenzentrums Sachsen-Anhalt.