Ahnenforschung für die Wissenschaft
Wie lassen sich aus Kirchenbüchern gewonnene Daten in die historische Forschung einbinden? Diese Frage stand am Anfang des Citizen-Science-Projekts „Hallische Heiratsgeschichten“, das Dr. Katrin Moeller vom historischen Datenzentrum der MLU gemeinsam mit der Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte im Frühjahr dieses Jahres aufgelegt hat. Die Idee dahinter: „Wir wollten die private Seite des Lebens im 19. Jahrhunderts stärker zum Sprechen bringen“, sagt die Historikerin. Dazu bedarf es massenhafter Daten, die in Form von digitalisierten Kirchenbüchern zwar grundsätzlich schon vorhanden, aber eben bisher nicht vollständig erfasst und bearbeitet worden sind. „Sie für eine wissenschaftliche Analyse zugänglich zu machen, ist ein enormer Arbeitsaufwand, den Forschende an der Uni kaum leisten können“, sagt sie. „Dafür fehlen uns im Arbeitsalltag einfach die Ressourcen.“
Gleichwohl wäre die Bereitstellung solcher Daten ein Gewinn für die Forschung. Denn aus zunächst eher faktischen Angaben zu Alter, Beruf und Familienstand, wie sie in Kirchenbüchern enthalten sind, lässt sich das gesellschaftliche Zusammenleben von damals hervorragend rekonstruieren. Aus diesem Grund initiierten die Historiker und Historikerinnen besagtes Citizen-Science-Projekt, bei dem die Daten hallescher Kirchenbücher von interessierten Bürgerinnen und Bürgern erfasst werden. Mit im Boot: der Verein für Computergenealogie, der über eine gut funktionierende Software für diesen Zweck verfügt sowie jede Menge weiterer Vereine und Initiativen.
Die Resonanz auf den Aufruf zum Projektstart und den digitalen Auftaktworkshop war überwältigend. 70 Menschen aus ganz Deutschland haben sich gemeldet, die meisten davon private Ahnenforscher, die von Natur aus ein Interesse an solchen Daten haben. Eine von ihnen war Isa Brähler, eine gebürtige Hallenserin, die 1959 mit ihren Eltern aus der DDR floh. Seither lebt sie in Aschaffenburg, wo sie lange Zeit ein Callcenter gemanagt hat. „Schon als 20-Jährige habe ich versucht, einen Stammbaum meiner Familie zu erstellen“, sagt sie. Inzwischen ist sie im Ruhestand und hat eine Aufstellung ihrer Ahnen über sieben Generationen recherchiert und das Ergebnis sogar in einem Buch zusammengefasst. „Dabei bin ich auch auf das Projekt an der MLU aufmerksam geworden.“
Ähnlich verlief der Zugang bei Joachim Hassel. Wie Isa Brähler erforscht auch er seit frühester Jugend seine Familiengeschichte. Als er vom Projekt „Hallische Heiratsgeschichten“ hörte, wollte er mit seiner Arbeit „auch ein Stück zurückgeben“, wie er sagt. „Denn als Ahnenforscher nutze ich seit Jahren im Netz zugängliche Daten aus historischen Quellen.“ Sein Engagement im Citizen-Science-Projekt ist für ihn ein Hobby. In seinem beruflichen Alltag hat er ebenfalls mit Datensätzen zu tun, wenngleich völlig anderer Natur: Der studierte Landschaftsgestalter arbeitet im Hörfunk-Archiv im MDR-Funkhaus in Halle. „Die Beschäftigung mit den alten Kirchenbüchern ist eine Möglichkeit, in längst vergangene Zeiten einzutauchen“, sagt er, außerdem habe die alte Kurrentschrift einen eigenen ästhetischen Reiz.
Grundlage des Projekts bilden die Kirchenbücher der halleschen Mariengemeinde sowie der von St. Georgen, die für den Zeitraum 1820 bis 1900 bereits digitalisiert vorliegen. Doch wie muss man sich die Arbeit der Bürgerwissenschaftlerinnen und Bürgerwissenschaftler konkret vorstellen? Sobald sie sich in das online verfügbare System des Vereins für Computergenealogie einloggen, wird ihnen eine digitalisierte Kirchenbuchseite angezeigt. Die dort lesbaren Angaben, etwa die Namen von Braut und Bräutigam, die Berufe ihrer Eltern sowie deren Namen müssen dann entziffert, geprüft und in einem Eingabesystem notiert werden. Der Vorteil: Mit derartigen Tools und Datenbanken ist Bürgerwissenschaftler Joachim Hassel seit Jahren vertraut.
„Die Arbeit ist mitunter mühsam, denn gerade anfangs ist es nicht leicht, die alten Handschriften zu entziffern“, sagt Isa Brähler, die bisher 49 solcher Seiten bearbeitet hat. Auch das Erfassen der aufgeführten Berufsbezeichnungen ist eine Herausforderung, denn viele sind heute nicht mehr gebräuchlich. Ein Beispiel ist der Universitäts-Tanzmeister, auf den Brähler stieß. „Dann ist es wichtig, tiefer in die Recherche einzusteigen und sich mit den anderen am Projekt Beteiligten auszutauschen“, sagt sie. Anfangs habe man sich einmal pro Woche digital verabredet, um gemeinsam Zweifelsfälle und Unklarheiten zu besprechen. Inzwischen sind die Abstände größer geworden, „denn man gewinnt Sicherheit und eine gewisse Arbeitsroutine“, meint Brähler. So gebe es inzwischen kaum noch Stellen in den Kirchenbüchern, die sich nicht aufklären lassen. Zudem werde durch die Gemeinschaftsarbeit die Qualität der Dateneingabe zusätzlich gesichert.
Katrin Moeller freut sich, dass das Projekt inzwischen enorme Fortschritte gemacht hat. Zum Vergleich: Insgesamt müssten 2.900 digitale Kirchenbuchseiten erfasst werden, um die Eheschließungen des 18. und 19. Jahrhunderts vollständig aufzunehmen. Pro Seite benötigt man dafür etwa zwei Stunden, bei Unklarheiten kann das schnell mehr werden. Bisher sind 330 Seiten registriert. Katrin Moeller schätzt, dass es noch mindestens zwölf Monate dauern wird, bis alles geschafft ist.
Die Daten, die Projektbeteiligte wie Isa Brähler und Joachim Hassel erfassen, stehen im Anschluss online zur Verfügung, können also auch von interessierten Laien, etwa passionierten Ahnenforschern, genutzt werden. Aber vor allem Wissenschaftler wie Moritz Müller freuen sich darüber. Er schreibt derzeit seine Doktorarbeit am Institut für Geschichte. Darin untersucht er soziale Netzwerke im 19. Jahrhundert. „Ich möchte herausfinden, zwischen welchen Familien sich in Halle soziale Kontakte entwickelt haben“, erklärt er, denn das Heiratsverhalten, so seine These, sei ein Indikator für die soziale Gliederung einer Gesellschaft. Müller, der selbst diverse Seiten aus den Kirchenbüchern erfasst hat, kann bei seiner Promotion nicht auf die Arbeit der Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler verzichten. Generell sieht er in deren Teilnahme am Projekt „einen enormen Gewinn“. Sie handelten aus einer intrinsischen Motivation heraus, aus einem spezifischen Interesse für das Thema, und nicht, weil sie dafür bezahlt werden. „Das macht ihre Arbeit besonders wertvoll“, so Müller. und ergänzt: „Außerdem verfügen sie über ein Expertenwissen, das dem Projekt ebenfalls zu Gute kommt.“
Auch Katrin Moeller zieht ein durchweg positives Zwischenfazit. „Die Daten der ,Hallischen Heiratsgeschichten‘ sind für Forscher und Laien gleichermaßen von Interesse“. In diesem Zusammenhang sei besonders auf den Schnittpunkt zwischen Genealogie und Geschichtswissenschaft hingewiesen. „Es gibt viele Überschneidungen“, so Moeller. „Die Genealogen generieren mit ihrer Arbeit einen zusätzlichen Wert für die Forschung.“ Mehr noch: In den Geschichtswissenschaften ließen sich jetzt Forschungsvorhaben realisieren, von denen man in den 1980er Jahren nicht zu träumen gewagt hätte. „Damals fehlten auch die technischen Möglichkeiten, die uns heute einen tieferen Einblick in vergangene Zeiten ermöglichen“, so Moeller. Denn: „Im Kleinen findet man oft die großen historischen Zusammenhänge gespiegelt.“
Dr. Katrin Moeller
Institut für Geschichte
Tel.: +49 345 55-24286
E-Mail: katrin.moeller@geschichte.uni- halle.de
Moritz Müller
Institut für Geschichte
Tel.: +49 345 55-24422
E-Mail: moritz.mueller@geschichte.uni- halle.de