Yvonne Kleinmann ist Senior Fellow des Historischen Kollegs München
Verfassungsgeschichte, räumt Yvonne Kleinmann ein, stehe kaum im Verdacht, die Herzen vieler Historikerinnen und Historiker, geschweige denn einer breiten Öffentlichkeit höher schlagen zu lassen. Aber es gebe gerade angesichts der seit Jahren anhaltenden Debatten um die Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn ein neues öffentliches Interesse an Verfassungen. In den vergangenen fünf Jahren hat die Europäische Kommission mehrere Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof gegen Polen angestrengt, in denen es vor allem um die Funktionsfähigkeit des Verfassungsgerichts, die Entlassung oder Disziplinierung unliebsamer Richterinnen und Richter und die richterliche Unabhängigkeit am Obersten Gericht geht. Das daraus entstehende Interesse an dem Thema möchte die Historikerin mit einer Monographie bedienen, die eine sowohl inhaltlich als auch methodisch erneuerte Verfassungsgeschichte enthält. Gerade angesichts der aktuellen Gefährdung demokratischer Verfassungen, so ihre Position, ist es wichtig, die jahrhundertealte Verfassungstradition Polens ins Gedächtnis zu rufen.
Kleinmann wird dies nicht in Halle tun, inmitten des Tagesgeschäfts an der Universität, der Lehre und der Gremienarbeit. Ab Herbst wird sie in der Villa Kaulbach am Englischen Garten in München sitzen. Gleich um die Ecke liegt die Bayerische Staatsbibliothek. „Das sind beste Voraussetzungen, um konzentriert nachzudenken und zu schreiben“, sagt sie. Ein Privileg, denn Kleinmann ist zum Senior Fellow des Historischen Kollegs München berufen worden. Von Oktober 2023 bis September 2024 wird sie Zeit haben, an ihrem Buch unter dem Titel „Verfassungen im Gespräch. Polens politische Grundordnungen als Kultur- und Verflechtungsgeschichte“ zu arbeiten. Für diesen Zeitraum finanziert das Kolleg ihre Vertretung an der MLU. Eine Bedingung: Für die Geförderten herrscht in dieser Zeit Residenzpflicht in München.
Ein Fellowship des Historischen Kollegs „ist schon eine Art Ritterschlag“, sagt die Wissenschaftlerin – abgesehen davon sehe sie sich auch als Botschafterin der MLU, die dank dieser Förderung überregional an Sichtbarkeit gewinne. Das Historische Kolleg fördert seit seiner Gründung 1980 herausragende Forscherinnen und Forscher aus dem Bereich der historischen Wissenschaften und bietet ihnen mit dem Fellowship-Programm den Freiraum, ein umfangreiches Werk zum Abschluss zu bringen.
Yvonne Kleinmann ist seit Januar 2014 Professorin an der MLU. Seitdem habe sie viel Zeit in den Aufbau und die Arbeit des 2012 gegründeten Aleksander-Brückner-Zentrums für Polenstudien investiert, eine Kooperation der Universitäten Halle und Jena. Unter diesen Bedingungen, sagt sie, „hatte ich lange Zeit keine Kapazitäten, um mich für ein Jahr zu verabschieden.“
Aber ein Buch schreibe sich auch nicht in einem Jahr, so Kleinmann. Deshalb gehe sie natürlich nicht unvorbereitet nach München. Mit unterschiedlichen Aspekten der polnischen Verfassungsgeschichte habe sie sich schon in Publikationen, in Lehrveranstaltungen und auf zwei internationalen wissenschaftlichen Konferenzen befasst. Das Besondere: die Tatsache, dass sich das polnische Verfassungsdenken über lange Phasen jenseits von Eigenstaatlichkeit entwickelte, insbesondere im 19. Jahrhundert im Rahmen des Russischen Imperiums, Preußens und der Habsburgermonarchie. „Über 120 Jahre gab es keinen souveränen polnischen Staat.“ Dazu komme, dass die Volksrepublik Polen nach dem Zweiten Weltkrieg in der Einflusssphäre der Sowjetunion nur eine begrenzte Souveränität und Entscheidungsgewalt über die eigene Verfassung hatte.
Aber wie schreibt man eine Verfassungsgeschichte eines Staates, die eigentlich nicht immer die eigene ist? In dem Buch werde sie immer wieder auf europäische und internationale Verflechtungen eingehen und sehr unterschiedliche Perspektiven einnehmen, kündigt Kleinmann an, zum Beispiel jene der habsburgischen oder preußischen Verwaltung. Auch die Perspektiven bestimmter Gruppen, die in den verschiedenen Verfassungen thematisiert oder auch beschwiegen werden, sollen zum Tragen kommen, etwa solche von Bauern, Frauen oder Juden. Verfassungsgeschichte sei für sie mehr als der reine Verfassungstext oder die Verfassungsgerichtsbarkeit. Es stelle sich auch immer die Frage, wie Verfassungen entstehen, wer daran beteiligt – oder eben nicht beteiligt – ist, so Kleinmann. Und wie die Anwendung in der Praxis aussehe.
Bisher gibt es noch keine deutschsprachige Verfassungsgeschichte Polens. „Das ist eine erstaunliche Lücke“, sagt die MLU-Forscherin. Darüber hinaus sei Verfassungsgeschichte oft ein klassisches Thema der Rechtswissenschaft – entsprechend seien auch die bisher in Polen erschienenen Werke zur Verfassungsgeschichte von juristischer Systematik geprägt. Deren Leistung erkennt Kleinmann vollends an, will aber ihre Arbeit stärker gesellschafts- und kulturgeschichtlich ausrichten. Eine Schwäche der polnischen Verfassungsgeschichtsschreibung sieht sie darin, dass das lange 19. Jahrhundert meist als Fremdherrschaft und deshalb für die Verfassungsentwicklung als wenig relevant betrachtet werde. „Ich denke, dass es gerade in der aktuellen Situation wichtig ist, eine polnische Verfassungsgeschichte in einem größeren Kontext zu schreiben und in das öffentliche Bewusstsein zu bringen“, so die Historikerin.