Vitam impendere vero – Das Leben der Wahrheit weihen
1944 war Bertolt Brecht 46 Jahre alt und schrieb im amerikanischen Exil das hoffnungsschwere kurze Gedicht „Alles wandelt sich“ – zur gleichen Zeit genau halb so alt, gehörte Günter Mühlpfordt erzwungenermaßen der deutschen Wehrmacht an und war von der Wissenschaft weiter entfernt als je zuvor oder danach.
Bei Brecht hieß es: „Was geschehen ist, ist geschehen. Das Wasser / Das du in den Wein gossest, kannst du / Nicht mehr herausschütten, aber / Alles wandelt sich. Neu beginnen / Kannst du mit dem letzten Atemzug.“ Den unerschütterlichen Glauben an eine Möglichkeit – und sei sie noch so klein – des Wandels zum Besseren hat sich der hallesche Historiker Günter Mühlpfordt ebenfalls lebenslang bewahrt, und wie sich zeigte (wenn auch schmerzlich spät), zu Recht.
Günter Mühlpfordt, am 28. Juli 1921 in eine hallesche Fabrikantenfamilie geboren, entdeckte seine Liebe zur Geschichte schon als Achtjähriger. Da las er in einem Geschichtsbuch seines Vaters und war vom Heimatkundeunterricht fasziniert. Das Bildungserlebnis wurde für ihn die Lektüre von Putzgers Großem Geschichtsatlas. Als Knabe Zögling der Franckeschen Stiftungen, interessierte er sich früh für fremde Sprachen und für das Mittelalter, bald stand sein Studienwunsch fest. Mit 18 Jahren bestand er mit Bestnoten das Abitur und nahm 1939 an der Alma Mater Halensis ein Studium der Geschichte, Philosophie und Slawistik auf. Schon zwei Jahre später wurde er mit dem Prädikat magna cum laude promoviert. In Friedenszeiten hätte er sofort seine Karriere als Wissenschaftler starten können – und das gewiss getan.
Doch Deutschland hatte die Welt in einen Krieg gestürzt, und niemand hatte eine Chance, sich der Wehrpflicht zu entziehen. Notgedrungen Wehrmachtsangehöriger und später Kriegsgefangener, verlor der junge Historiker dennoch zu keiner Zeit sein Ziel aus den Augen: suchend, forschend und neue Erkenntnisse gewinnend der Wissenschaft zu dienen.
Zwei Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs kehrte Günter Mühlpfordt 1947 an die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zurück. Er wurde er Lehrbeauftragter und Assistent des renommierten Osteuropahistorikers Eduard Winter, der von 1948 bis 1951 zweiter Nachkriegsrektor der Alma Mater Halensis war. Er baute in Halle ein Universitätsinstitut für Osteuropäische Geschichte auf und übernahm, gleichfalls im Auftrag von Professor Winter, zwischen 1949 und 1951 den Wiederaufbau des Universitätsinstituts für Osteuropäische Geschichte in Berlin. 1953 habilitierte sich Günter Mühlpfordt mit einer Analyse über „Die polnische Krise von 1863“. Der Hauptgrund für die Wahl dieses brisanten Themas lag laut Verfasser der Arbeit in der offensichtlichen Analogie zwischen dem Schicksal des geteilten Polen und dem des geteilten Deutschland. Sicher zog er damit bereits zu diesem frühen Zeitpunkt Aufmerksamkeit und Argwohn der linientreuen Staatspartei an.
Spätestens die geplante Antrittsvorlesung im Mai 1953 missfiel den akademischen Politbonzen so gründlich, dass sie diese kurzerhand verboten. Von „Ursachen der Rückständigkeit des zaristischen Russland“ wollte man nichts wissen; selbst ein sowjetischer „Kulturoffizier“ soll seinen Unwillen kundgetan haben …
Dennoch wurde Günter Mühlpfordt 1954 zum Professor berufen und zum Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte der halleschen Universität ernannt. Hier fühlte er sich am richtigen Platz für seine Pläne und arbeitete vom ersten Tag an unbeirrt daran. Neben Vorlesungen und Seminaren konzipierte er ein großes Projekt: das „Jahrbuch für Geschichte Ost- und Mitteleuropas“, dessen erster Band 1956 erschien. In einem Interview im Heft 5 der von Hermann-Josef Rupieper († 2004) herausgegebenen Reihe „Hallische Beiträge zur Zeitgeschichte“ erklärte Günter Mühlpfordt 1998, mit dem Jahrbuch habe er „im Sinn der natürlichen Mittlerfunktion des deutschen Volkes zwischen östlichen und westlichen Ländern“ wirken wollen, es sei seine Absicht gewesen, „Brücken zu schlagen“. Dieser Band 1 blieb – unter den obwaltenden Bedingungen des Kalten Krieges und angesichts konkreter politischer Ereignisse jener Zeit verwundert das nicht – der einzige unter seiner Herausgeberschaft.
Fügt man Günter Mühlpfordts Credo, das für sein ganzes Leben und Werk gilt, hinzu, war der wenig später folgende Crash vorprogrammiert: Sein Wahlspruch, aus dem IV. Buch der Satiren des römischen Dichters Juvenal, lautete: Vitam impendere vero – Das Leben der Wahrheit weihen. Bereits dem französischen Aufklärer Jean-Jaques Rousseau hatten es diese Worte angetan – und die deutsche und die europäische Aufklärung waren für Günter Mühlpfordt stets das Hauptforschungsfeld.
Doch so rigoros der Wahrheit verpflichtet zu sein, konnte nicht ohne Folgen bleiben. Unter den in Ostdeutschland (vor)herrschenden politischen Verhältnissen machte es aus einem hoffnungsvollen jungen Gelehrten für Jahrzehnte einen Geächteten. Dieses Unrecht vermochte selbst die „vollständige Rehabilitation“ 1990 nicht wieder gutzumachen. Für eine Fortsetzung der gewaltsam abgebrochenen universitären Laufbahn war es für den fast 70-Jährigen zu spät. Nicht so für wissenschaftliche Forschungen, größtenteils zur Frühen Neuzeit und zur mitteldeutschen Aufklärung, und Publikationstätigkeit.
Mitte der 1950er Jahre erhielt Günter Mühlpfordt Rufe an die Universitäten Rostock, Berlin und Leipzig – er schlug sie aus. Halle war und blieb sein Lebensmittelpunkt. Das änderte sich auch nicht, nachdem er infolge politisch-ideologisch motivierter Hetzkampagnen im April 1958 aller universitären Ämter enthoben und mit Lehrverbot belegt wurde, ja nicht einmal nach dem endgültigen beruflichen Aus: der fristlosen Entlassung aus der Martin-Luther-Universität im April 1963.
Seitdem schlug er sich als Privatgelehrter durch. Seine Frau und Mitarbeiterin, die Buchhändlerin Elisabeth, geborene Kopp († 1999), stand ihm stets hilfreich zur Seite. Als es noch gefahrlos möglich gewesen wäre, gingen die zwei nicht „in den Westen“ – denn das hätte ihn nicht nur von allen Quellen abgeschnitten, die ihm für seine Forschungen wichtig waren, sondern er hätte auch seine Mutter Gertrud († 1982), deren einziger Sohn er war, allein zurücklassen müssen. Rastlos arbeitete und publizierte er, Letzteres allerdings nur selten im eigenen Land. Die meisten seiner, schon damals von der Fachwelt mit großem Interesse auf- und angenommenen Abhandlungen, Artikel und Aufsätze erschienen „im kapitalistischen Ausland“: in der alten Bundesrepublik, in Israel, Italien, Kanada und in den USA. Teilweise gelang es nur auf abenteuerliche Weise und mit Hilfe verschwiegener Freunde und Kollegen, Manuskripte außer Landes zu schmuggeln, raus aus dem geschlossenen System namens DDR.
Erst 1986 durfte Günter Mühlpfordt, als Rentner, legal gen Westen reisen … sein erstes Ziel war die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel! Nach 1989 – Wandel und Neubeginn! – nutzte er jede Chance, am Leben der internationalen scientific community teilzunehmen: Vorträge, Tagungen, Kongresse, Forschungsaufenthalte, Publikationen … 1997 richteten Universität und Franckesche Stiftungen aus Anlass seines 75. Geburtstags (im Vorjahr) ein Festkolloquium aus, zeitgleich erschienen die ersten vier von sieben Bänden der mit rund 6.000 Seiten umfänglichsten je einem Historiker gewidmeten Festschrift „Europa in der frühen Neuzeit“.
1999 erhielt Günter Mühlpfordt für seine Verdienste um die Erforschung der Geschichte des mitteldeutschen Raumes den Eike-von-Repgow-Preis der Stadt Magdeburg und der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Der Sächsischen Akademie zu Leipzig war er eng verbunden und er war Mitglied der Akademien in Erfurt und Görlitz sowie der Leibniz-Sozietät zu Berlin.
Um die Jahrtausendwende reifte sein Plan, die über Jahrzehnte verstreut erschienenen Publikationen zur mitteldeutschen Aufklärung gesammelt und aktualisiert neu zu editieren: zwischen 2011 und 2017 kamen im Mitteldeutschen Verlag Halle vier Bände der von der Fachwelt dankbar begrüßten Schriftenreihe „Mitteldeutsche Aufklärung“ heraus. Die nächsten Bände hatte Günter Mühlpfordt schon konzipiert und brannte darauf, sich nach seiner Genesung im Frühjahr 2017 wieder an den Schreibtisch setzen und weiter arbeiten zu können …
Aber am 4. April jenes Jahres nahm ihm der Tod den Stift aus der Hand.