Tücken der Wahrnehmung

20.10.2021 von Tom Leonhardt in Im Fokus, Wissenschaft, Forschung
Daten aus Citizen-Science-Projekten sind von großem Wert für die Forschung, können aber tendenziell zu verzerrten Ergebnissen führen. Das hat eine Studie unter Beteiligung der Universität Halle gezeigt. Was bedeutet das für die Projekte? Ein Gespräch mit Ko-Autor Prof. Dr. Jonathan Chase und Dr. Sabrina Träger, die ein Citizen-Science-Projekt zu Schlüsselblumen leitet.
Mit Schlüsselblumen befasst sich ein europaweites Citizen-Science-Projekt, dessen deutschsprachiger Teil von Sabrina Träger koordiniert wird.
Mit Schlüsselblumen befasst sich ein europaweites Citizen-Science-Projekt, dessen deutschsprachiger Teil von Sabrina Träger koordiniert wird. (Foto: karamba2106 / stock.adobe.com)

Frau Träger, worum geht es in Ihrem Projekt?
Sabrina Träger: Ich war zuletzt an der Uni Tartu in Estland. Dort haben wir ein Citizen-Science-Projekt gegründet, bei dem es darum ging, Schlüsselblumen in ihrem natürlichen Lebensraum zu untersuchen. Die Art hat zwei Blütentypen, die beide für die Bestäubung benötigt werden. Wir wollten herausfinden, wie die Verteilung der beiden Typen ist und wie groß der Einfluss des Menschen darauf ist. Selbst in einem kleinen Land wie Estland ist es für Forschende allein unmöglich, überall nach Schlüsselblumen zu suchen. So entstand die Idee für das Projekt. 2019 startete die erste Erhebung in Estland, 2020 wurde sie wiederholt. Diese Daten sind in eine Studie eingeflossen, in der wir zeigen konnten, dass einer der beiden Blütentypen tatsächlich häufiger vorkommt. Seit 2021 haben wir das Projekt europaweit aufgelegt, da die Schlüsselblume insgesamt sehr weit verbreitet ist.

Jonathan Chase: Um die Blumen richtig zu bestimmen, muss man sehr nah an sie herangehen, oder?

Träger: Ja, genau. Es ist nicht schwer, die beiden Typen voneinander zu unterscheiden, aber man muss genau hinschauen.

Was ist Ihrer Meinung nach der größte Unterschied zwischen einem klassischen Forschungsprojekt und einem Citizen-Science-Projekt?
Träger: Man gibt einen Teil der Kontrolle darüber ab, wie die Daten erhoben werden. Normalerweise würden Forschende oder auch geschulte Biologie-Studierende die Daten erheben. Bei Citizen-Science-Projekten ist es deshalb sehr wichtig, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern genau zu erklären, was von ihnen erwartet wird und wie sie das umsetzen können. Aber danach liegt es an ihnen, ob sie die Hinweise beachten.

Chase: Niemand ist völlig unvoreingenommen. Als Wissenschaftler weiß ich im besten Fall, dass ich gewisse Vorurteile und Wahrnehmungsfehler habe, die zu Verzerrungen führen. Das lässt sich nicht verhindern. Wenn ich beispielsweise nur wenige Grasarten kenne, werde ich nicht alle Pflanzen richtig bestimmen können. Ich gebe mir große Mühe, mir das immer wieder ins Bewusstsein zu rufen. Deshalb wollte ich gerade auch wissen, wie nah man an die Schlüsselblumen herangehen muss. In meiner Forschungsgruppe beginnen wir gerade damit, mit den Daten der „global biodiversity information facility“ (GBIF) zu arbeiten. Das ist ein internationales Netzwerk, das Datensätze zur Biodiversität aus zahlreichen Datenbanken zentral zusammenzufasst. Auch die Daten von „iNaturalist“ fließen darin ein. Das ist eine Plattform, zu der jeder und jede Fotos und Beobachtungen von Pflanzen und Tieren aus aller Welt beitragen kann. Da kann es leicht passieren, dass sich Fehler und Ungenauigkeiten einschleichen. Das weiß ich aus erster Hand.

Wieso?
Chase: Mein Sohn und ich nutzen die „iNaturalist“-App auf dem Handy, um Vögel zu fotografieren und automatisch bestimmen zu lassen. Das macht uns viel Spaß. Da ich aber erst seit ein paar Jahren in Deutschland lebe, kenne ich die meisten Vogelarten nicht so gut und verlasse mich auf die App, die mir eine Art vorschlägt, die ich im Zweifelsfall dann bestätige. Die Daten werden im Nachgang zwar von einem Experten überprüft, aber wie soll das mit meinem schlechten Foto verlässlich funktionieren? Das macht mich als Forscher ein wenig nervös, wenn ich darüber nachdenke …

Wie lassen sich diese unglaublich großen Datensätze überhaupt kontrollieren? Wie lassen sich Ungereimtheiten darin finden?
Chase: Unsere Kolleginnen und Kollegen bei der GBIF haben verschiedene Filter und Algorithmen eingebaut, mit denen wir sogenannte Vertrauensstufen definieren, also bestimmen können, wie sicher die Daten sein sollen, die wir für unsere Forschung verwenden wollen. Das hilft ein wenig.

Wie ist das in Ihrem Projekt, Frau Träger?
Träger: Als wir nur die Daten aus Estland hatten, haben wir diese manuell überprüft. Das waren im ersten Jahr etwa 2.000 Einträge. Theoretisch lässt sich jeder Datenpunkt anschauen und kontrollieren, ob überhaupt die richtige Pflanze erkannt und in ihrem natürlichen Umfeld, also zum Beispiel nicht in Parks, gefunden wurde. Die Initiatoren des Projekts sind auch jetzt der Meinung, dass sich alle Daten manuell überprüfen lassen. Ich bin da etwas skeptischer: Allein in diesem Jahr haben wir knapp 400.000 neue Datenpunkte erhalten. Mit Hilfe einer künstlichen Intelligenz könnten wir zumindest relativ einfach kontrollieren, ob überhaupt die richtigen Arten erkannt wurden. Dafür fehlen uns aber aktuell die Ressourcen. Deshalb müssen wir auch darauf vertrauen, dass die Angaben korrekt sind.

Wie kann man die Menschen im Vorfeld auf bestimmte Fehlerquellen hinweisen und zum Beispiel sicherstellen, dass sie nicht nur an besonderen Standorten nach Pflanzen suchen?
Chase: Sie sprechen leider mit jemandem, der seine meiste Zeit im Büro verbringt und nicht draußen in der realen Welt. Mit der menschlichen Psyche habe ich mich bisher wenig befasst. (lacht) Es kommt aber vielleicht darauf an, wie stark die Projekte strukturiert sind. Wir haben diese unstrukturierten Projekte wie „iNaturalist“, bei dem ich als Teilnehmer machen kann, was ich will. Und dann gibt es Projekte, die deutlich stärker kontrolliert werden. Nehmen Sie zum Beispiel das Tagfalter-Monitoring, das am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) koordiniert wird. Das Projekt wird von einem großartigen Team geleitet und überall in Deutschland gibt es lokale Initiativen, die ihre festgelegten Transekten ablaufen und alle Falterbeobachtungen nach klaren Vorgaben protokollieren.

Sind die Daten aus unstrukturierten Projekten weniger Wert?
Chase: Diese Daten haben einen ungeheuren Wert! Dadurch haben wir Tausende, wenn nicht Hunderttausende Aufnahmen und Angaben zur Artenvielfalt, die wir untersuchen können. Man muss sich nur ihrer Aussagekraft und ihrer Grenzen bewusst sein.

Frau Träger, wie haben Sie in Ihrem Schlüsselblumen-Projekt versucht, die Menschen in die „richtige Richtung“ zu lenken?
Träger: Wir haben auf unserer Website und in den Sozialen Medien mehrfach betont, dass wir an Funden im natürlichen Lebensraum der Schlüsselblume interessiert sind, dass es nicht um Gärten oder Parks geht. Das ist natürlich keine Garantie, dass die Leute nicht trotzdem hingehen. Wir haben zumindest zu fast jedem Datenpunkt die Geodaten und können mit Karten abgleichen, ob sich in der Nähe ein Park oder Garten befindet.

Wie war der Kontakt mit den Bürgerinnen und Bürger für Sie generell?
Träger: Sehr viele Kontakte gab es während der Erhebungsphase nicht. Auf der Facebook-Seite haben vereinzelt Menschen Fotos gepostet, andere haben mir direkt E-Mails geschickt. Ansonsten läuft die Kommunikation über Newsletter, die wir an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer verschicken, um sie über den Projektstand zu informieren.

Chase: Wer sind eigentlich die Leute, die an dem Projekt teilgenommen haben?

Träger: Jedermann, der sich für Botanik interessiert, aber in der Regel keine wissenschaftliche Ausbildung hat.

Dieses fehlende Vorwissen könnte auch ein Problem sein …  
Chase: Das ist aber nicht nur für Citizen-Science-Projekte ein Problem. In den USA gab es ein Forschungsprojekt zur Artenvielfalt von Pflanzen, das über viele Jahre lief. Leider waren nicht alle beteiligten Wissenschaftler brillante Botaniker. Die Daten zeigen ab einem bestimmten Jahr einen gravierenden Abfall der Pflanzenvielfalt. Der Grund für den Rückgang war, dass zur selben Zeit ein Teil des Projektteams in den Ruhestand gegangen ist – offensichtlich der Teil, der besonders geschult im Erkennen von Pflanzenarten war. Dass die Daten später wieder „normaler“ werden, liegt daran, dass einer der pensionierten Forscher das Problem bemerkte und die anderen Forscher darauf aufmerksam machte.

Wir haben jetzt sehr viel über Risiken gesprochen … So würde ich das Gespräch ungern beenden. Worin liegen die großen Vorteile?
Träger: Bei allen Einschränkungen, über die wir gesprochen haben, liefern uns die Projekte einmalige Daten, die wir als Forschende so nicht erheben könnten. Sie sind mit einer gewissen Unsicherheit verbunden, aber als Wissenschaftler sollten wir wissen damit umzugehen.

Chase: Und selbst wenn die Daten nicht absolut akkurat sind, geben sie uns einen unglaublich reichen Überblick über Tausende Arten und Lebensräume. Außerdem helfen die Beobachtungen dabei, Naturschutzmaßnahmen weiterzuentwickeln und zu bewerten. Und die Projekte sollen dabei helfen, Menschen stärker mit der Natur in Verbindung zu bringen. Das ist auch eine Art Bildungsauftrag, weil die Menschen etwas über die Natur lernen, die sie umgibt und sie etwas darüber lernen, wie Wissenschaft funktioniert.

Jonathan Chase
Jonathan Chase (Foto: Stefan Bernhardt / iDiv)

Prof. Dr. Jonathan Chase ist seit Oktober 2014 Professor für Biodiversitätssynthese an der Uni Halle und Forschungsgruppenleiter am Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig.

Prof. Dr. Jonathan Chase
Forschungsgruppe Biodiversitätssynthese iDiv/Institut für Informatik MLU
Tel.: +49 341 9733120
E-Mail: jonathan.chase@idiv.de

 

 

Sabrina Träger
Sabrina Träger (Foto: privat)

Dr. Sabrina Träger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Pflanzenökologie der Uni Halle. Sie koordiniert den deutschsprachigen Bereich des europaweiten Citizen-Science-Projekts „Finde die Schlüsselblume“.

Dr. Sabrina Träger
Institut für Biologie
Tel.: +49 345 55-26412
E-Mail: sabrina.traeger@botanik.uni-halle.de

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