Starke Impulse für die Pflege und die Wirtschaft

Surrend schwebt die Drohne über dem Innenhof des Palliativzentrums, acht Propeller treiben sie an, mit bis zu einem Kilogramm kann sie beladen werden. Punktgenau wirft sie eine Packung Schmerzmittel ab, die von einer Pflegerin in Empfang genommen wird. Dann schwirrt das Hightech-Gerät zurück zur Dessauer Apotheke am Bauhaus, seiner „Heimatstation“. Klingt futuristisch, ist es aber nicht. „Wir reden hier nicht von einer Zukunftsvision, sondern von der Praxis“, sagt Prof. Dr. Patrick Jahn, Professor für Pflege- und Versorgungsforschung an der Medizinischen Fakultät. „Sachsen-Anhalt ist das erste Bundesland, in dem solche Versorgungsflüge per Drohne durchgeführt werden.“
Jahn koordiniert das 2019 gestartete Verbundprojekt „Translationsregion für digitalisierte Gesundheitsversorgung“ (TDG), an dem über 100 Partner aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft beteiligt sind: IT-Firmen, App-Entwickler, Maschinenbauunternehmen, Forschungseinrichtungen, Kommunen, Landkreise, Krankenkassen, Arztpraxen, Krankenhäuser, Pflegeheime. Sie haben sich in 30 Einzelprojekten zusammengeschlossen, um nach vorwiegend digitalen Lösungen für die Pflege- und Gesundheitswirtschaft suchen. Dafür hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) rund 15 Millionen Euro bereitgestellt.
„Das südliche Sachsen-Anhalt ist das ideale Revier, um Innovationen für die Versorgung der alternden Gesellschaft zu entwickeln“, erklärt Jahn. „Das Durchschnittsalter liegt weit über dem gesamtdeutschen Mittel. In Halle übersteigt der Anteil der Alleinlebenden bei den über 65-Jährigen deutlich den Bundesdurchschnitt. Das spiegelt sich letztlich in einer hohen Pflegequote wider.“ Zugleich habe die Förderung digitaler Pilotprojekte das Potenzial, die wirtschaftliche Entwicklung zu beleben – in einer Region, die stärker als andere von industriellem Abschwung insbesondere durch den Ausstieg aus der Kohleproduktion geprägt ist. Und nicht zuletzt zählt die Martin-Luther-Universität zu den führenden Hochschulen im Bereich der Gesundheits- und Pflegewissenschaften mit einer herausragenden Expertise auf diesem Gebiet.

Die Projekte des Verbundes beschäftigen sich damit, wie das autonome Leben und die Gesundheitsversorgung älterer Menschen insbesondere in Zeiten zunehmenden Fachkräftemangels sichergestellt werden können. „Das Spektrum reicht von Plattformen, die Akteure vernetzen und Wissen bereitstellen, über Telemedizin und -therapie für spezielle Patientengruppen bis hin zu Mobilitätskonzepten und Smart-Home-Lösungen“, erklärt Patrick Jahn. Die Medikamentendrohne ist nur ein Beispiel von vielen: Im Projekt „AktiMUW“ etwa arbeitet die MLU gemeinsam mit der Otto-von Guericke-Universität Magdeburg und der Hochschule Anhalt an einem intelligenten Rollator, der Barrieren im Umfeld analysiert, Navigationshilfe via Sprachausgabe leistet und sogar auf die Körperhaltung des Benutzers achtet. „LoRaLAB“, ein weiteres Projekt, erprobt smarte Technik für die Selbstständigkeit in der eigenen Wohnung. Seniorinnen und Senioren aus Nauendorf im Norden des Saalekreises werden in die Entwicklung einbezogen und können Innovationen in einer Testwohnung unmittelbar evaluieren. Im TDG-Verbund wird ebenfalls erforscht, wie Sensorsysteme und Pflegeroboter Personen mit Bewegungseinschränkungen unterstützen und Handlungsspielräume erweitern können.
„Sicher werden wir nicht einhundert Prozent unserer Ideen realisieren können, grundsätzlich aber ist die Überführung in praxistaugliche Produkte das Ziel aller Teilprojekte“, sagt Jahn. Ein gutes Beispiel dafür ist „DigiKonf“ mit seinem Tool zur virtuellen Wohnungsbegehung: Reha- und Versorgungsspezialisten können über eine Virtual-Reality-Schnittstelle gemeinsam bewerten, ob eine Wohnung für Querschnittsgelähmte nach der Entlassung aus dem Krankenhaus geeignet ist und welche Barrieren es zu beseitigen gilt – ohne dass das Expertenteam dafür in die Wohnräume gehen muss. Jahn: „Die BG-Kliniken als Partner in diesem Projekt haben bereits signalisiert, DigiKonf in Kürze für ihr Reha-Management nutzen zu wollen.“ Damit auch die übrigen TDG-Produkte zur Serienreife geführt werden können, wurde der Förderzeitraum des Verbundvorhabens bis Ende 2025 verlängert.

Noch während der Laufzeit von TDG hat das BMBF 2024 das Folgeprojekt „Innovationsregion für digitale Transformation von Pflege und Gesundheitsversorgung (TPG)“ gestartet. Es ist auf neun Jahre angelegt und wird mit 140 Millionen Euro gefördert. „Das ist eine gewaltige Summe, aber wir reden hier von über 80 Teilprojekten, von denen einige bereits angelaufen sind, der Großteil sich jedoch noch in Planung befindet“, sagt Patrick Jahn. Die Einzelprojekte werden in regionalen Clustern mit unterschiedlichen Kernthemen zusammengefasst: Im Saalekreis und in der Stadt Halle werden die technischen Grundlagen und Anwendungsszenarien für digitale assistive Technologien und Robotik erforscht. Der Burgenlandkreis beschäftigt sich damit, wie Virtual und Augmented Reality in der Pflege eingesetzt werden können. In Mansfeld-Südharz steht die Telepflege im Fokus und im Raum Anhalt-Bitterfeld werden Vorhaben zur personalisierten Pflege und vernetzten Mobilität gebündelt.
„Mit TPG erweitern wir das Innovationsnetzwerk der an der Versorgungskette beteiligten Akteure, das wir in TDG aufgebaut haben. Darüber hinaus schaffen wir themenbezogene regionale Leuchttürme, die beispielgebend für die künftige Gesundheitsversorgung der älteren Generation in ganz Deutschland sein werden“, erklärt Jahn. Damit dies gelingt und die richtigen Akteure zueinander finden, wird in jeder Schwerpunktregion ein Innovationsbüro eingerichtet. Innovationsmanager unterstützen Förderinteressierte bei sämtlichen Prozessschritten – von der Ideenfindung und Konzeptentwicklung über die Antragstellung bis hin zur Projektbegleitung. Jahn: „Die TPG-Förderung ermöglicht eine breite Förderung und Innovationskooperationen für Forschungseinrichtungen gemeinsam mit Unternehmen, Startups, aber auch gesellschaftlichen Akteuren wie Vereinen oder Selbsthilfegruppen. Wir laden also Interessierte ausdrücklich dazu ein, Kontakt zur MLU oder zu den Koordinationsbüros vor Ort aufzunehmen.“
Die Entwicklung von Innovationen sowohl in TDG als auch in TPG zielt zwar primär auf die Qualität der Gesundheits- und Pflegeversorgung einer alternden Gesellschaft, zugleich nehmen die Vorhaben aber auch den ökonomischen Strukturwandel im südlichen Sachsen-Anhalt in den Blick. „Die Stärkung der Wirtschaft ist ein wichtiges Anliegen nahezu aller Teilprojekte“, erklärt Patrick Jahn. „An knapp 80 Prozent der TDG-Vorhaben sind Startups beteiligt, die meisten davon hochspezialisiert, viele mit starkem Forschungsbezug. Diese Quote streben wir auch im TPG-Verbund an.“ Jahn ist optimistisch, dass die Dynamik und Anziehungskraft des Innovationsnetzwerks zu neuen Gründungen und zur nachhaltigen Ansiedlung technologieorientierter Unternehmen führen werden – mit hochwertigen Arbeitsplätzen im Zukunftsfeld Digital Health.