Zum Tod von Reimund Schmidt-De Caluwe: Jurist mit künstlerischer Ader
Vergänglichkeit bescheinigte Reimund Schmidt-De Caluwe an hervorgehobener Stelle der Rechtslehre: In pointierter Umkehrung des bekannten Bonmots von Otto Mayer überschrieb er seine Kritik an dessen Lehre vom Verwaltungsakt mit der „verfassungsbedingten Vergänglichkeit“ ihrer staatstheoretischen Grundlagen und dogmatischen Ausgestaltung. Wie er auf die uns allen als Menschen eigene Vergänglichkeit blickte, vermittelt vielleicht seine „K-Depesche“ zum Jahresende 2022 an Freunde und Kollegen mit Rück- und Ausblick auf das gesundheitliche und therapeutische Auf und Ab: ein Gruß mit Musikverweisen auf „Gracias a la vida“ und „People have the power“ – dies „etwas ‚gospelig‘, aber gut für ein wenig Hoffnung, Power und Zuversicht“. Es folgten noch gute Monate, bis unser Freund und Kollege Reimund Schmidt-De Caluwe am 14. Oktober 2023 seiner Krebserkrankung erlegen ist.
Seinen geographischen Lebensmittelpunkt hatte er stets in Gießen, seinen berufsbiographischen seit 2001 an der Juristischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er studierte von 1977 bis 1983 Rechtswissenschaft zunächst an der Philipps-Universität Marburg, dann an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Während des Studiums war er als wissenschaftliche Hilfskraft an der Professur für Zivil-, Prozess- und Arbeitsrecht bei Prof. Dr. Meinhard Heinze tätig, nach der Ersten Juristischen Staatsprüfung 1983 wechselte er zu Prof. Dr. Friedrich von Zezschwitz an die Professur für Öffentliches Recht und Steuerrecht. Hier etablierte er sich als Rechtswissenschaftler. Die Zweite Juristische Staatsprüfung legte er 1987 ab, die Promotion zum Dr. iur. folgte 1991. In seiner preisgekrönten Dissertation zum Thema „Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch – Eine Untersuchung der Entstehung und Entwicklung eines besonderen Haftungstatbestandes im Sozialrecht, seines Verhältnisses zum Sozialverfahrens- und Staatshaftungsrecht sowie eine Kritik seiner bisherigen Dogmatik“ (1992) präsentierte er sich mit seinem ersten fachlichen Schwerpunkt in der Sozialrechtswissenschaft. Dem Sozialrecht hatte er sich anfangs wohl über das Arbeitsrecht genähert, worauf nach der studienbegleitenden Hilfskrafttätigkeit auch die den Übergang ins Referendariat begleitende Mitarbeit in einem Rechtsanwaltsbüro mit Schwerpunkten im Arbeits- und Sozialrecht hindeutet.
Mit seiner Dissertation erschloss Reimund Schmidt-De Caluwe seinen sozialrechtlichen Gegenstand als der gediegene Verwaltungsrechtswissenschaftler, der er dann in allen Gebieten des Verwaltungsrechts war. Prägend für seine Position war es, dass er diese Rechtsfigur des Sozialverwaltungsrechts insgesamt dem „verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz“ zuordnete. Mit seiner ebenfalls preisgekrönten Habilitationsschrift über die „Bestandskraft rechtswidriger Verwaltungsakte“ untersuchte er diese zentrale dogmatische Figur des Verwaltungsrechts sowohl in ihren verfassungs- und verwaltungsrechtshistorischen Traditionszusammenhängen als auch in der Systematik eines den Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats verpflichteten Verfassungsrechts. Das Vorwort der Buchfassung, die unter dem eingangs erwähnten Titel den der rechtshistorischen Kritik gewidmeten ersten Hauptteil der Habilitationsschrift umfasst (Der Verwaltungsakt in der Lehre Otto Mayers – Staatstheoretische Grundlagen, dogmatische Ausgestaltung und deren verfassungsbedingte Vergänglichkeit, 1999) zeugt programmatisch von der produktiven Verbindung zwischen rechtsdogmatischem Systemdenken und Sinn für historische Kontextualität, die Reimund Schmidt-De Caluwes Forschung und Lehre kennzeichnete: „Die hier vorgelegte Kritik an der Verwaltungsrechtslehre Otto Mayers zielt nicht primär auf die Leistungen des ‚Meisters des deutschen Verwaltungsrechts‘ [...], auch keineswegs auf die Handlungsform des Verwaltungsaktes als solche [...]. Sie richtet sich vielmehr an die gegenwärtige Verwaltungsrechtslehre und -praxis und gilt dem Umstand, dass hergebrachte Strukturen tradiert werden, denen der konstitutionelle Grund schon lange abhandengekommen ist. Die Abhängigkeit der klassischen Doktrin des Verwaltungsakts Mayers von der Staatsidee des Spätabsolutismus zwingt dazu, solch unreflektierte Tradierung aufzugeben. Die Analyse von Mayers Lehre geschieht hier zu dem Zweck, die Notwendigkeit aufzuzeigen, das Recht des Verwaltungsaktes auf demokratisch-rechtsstaatlicher Grundlage neu zu rekonstruieren.“
Die zum Abschluss der Habilitation 1998 verliehene venia legendi für „Öffentliches Recht und Sozialrecht“ bildeten in vorbildlicher Einfachheit die Breite und die Tiefe des rechtswissenschaftlichen Profils von Reimund Schmidt-De Caluwe ab. Mit eben diesem Profil prägte er seit seiner Berufung auf den entsprechend ausgerichteten Lehrstuhl im Jahr 2001 die Forschung und Lehre in Halle mit. Er trug die Pflichtfachlehre zu den Grundlagen des Rechts mit der Vorlesung zur Verfassungsgeschichte der Neuzeit, solange sie noch einen eigenen Platz im Lehrangebot hatte, sowie zum Staatsorganisationsrecht, in besonderer Regelmäßigkeit aber, über mehr als zwanzig Jahre hinweg, zum Allgemeinen Verwaltungsrecht. Für das Schwerpunktstudium lehrte er maßgeblich das Umwelt- und Planungsrecht und führte regelmäßig Seminare hierzu durch. Ferner betreute er zahlreiche umwelt- und planungsrechtliche Promotionsvorhaben und wissenschaftliche Schwerpunktarbeiten.
Der Thematik galten auch mehrere seiner Publikationen, in denen er sich unter anderem mit dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen sowie mit dem allgemeinen Umweltrecht in Sachsen-Anhalt beschäftigte. Insofern kommen ihm besondere Verdienste gerade auch bei der Erforschung und Darstellung landesrechtlicher Umweltthemen zu. Jüngst ging es Reimund Schmidt-De Caluwe besonders darum, was das Umwelt- und Planungsrecht zu einer verantwortungsvollen Klimapolitik beizutragen hat. Ein 2019 mit einem Mitautor verfasster Aufsatz reflektiert den Zusammenhang mit seinem Interesse am Sozialrecht: „Handlungsoptionen für eine sozialverträgliche Energiewende am Beispiel des Klimabonusmodells und einschlägiger sozialrechtlicher Regelungen“. Und zuletzt befasste er sich auch in Seminaren mit den Herausforderungen des Klimawandels sowie mit Klimaschutz und sozialer Gerechtigkeit.
Im Bereich des Umwelt- und Planungsrechts schlug Reimund Schmidt-De Caluwe zudem ab 2009 eine Brücke zur Rechtspraxis, indem er zusammen mit dem Bundesumweltamt in Dessau die Veranstaltungsreihe „Umwelt- und Planungsrecht in Praxis und Wissenschaft“ (UPPW) begründete und mit ihren seither fast sechzig Vortragsveranstaltungen verantwortete. Ziel dieser beliebten Reihe ist es, mit lokalen und regionalen Einrichtungen und Akteuren in den Gebieten des Umweltschutzes sowie der Raum- und Fachplanung wissenschaftliche Erkenntnisse und Erfahrungen auszutauschen und zu diskutieren. Über die Jahre hinweg fanden hier Gespräche zu den unterschiedlichsten Themen statt, dies sich regelmäßig durch ihre Aktualität und Praxisrelevanz auszeichneten. Wir freuen uns, diese von ihm begründete erfolgreiche Tradition fortsetzen zu können.
Im Zentrum seiner sozialrechtlichen Forschung steht die Entwicklung eines grundrechtsorientierten Sozialrechts, das er in drei Festschriftbeiträgen für Hallenser Kollegen zusammengefasst hatte. In der Festschrift für Gerfried Fischer hatte er 2010 seine Anmerkung zum Beschluss des BVerfG vom 6.12.2005 und seine Kommentierung zu § 92 SGB V aufgenommen, in denen er eine demokratisch nicht legitimierte Normsetzungskompetenz des Gemeinsamen Bundesausschuss kritisierte und verlangte, dass der Leistungsanspruch der Versicherten in der Gesetzlichen Krankenversicherung am grundrechtlichen Schutz aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG orientiert wird und dass der G-BA beschränkt wird, als fachkundiges Gremium Aussagen zur Konkretisierung des Leistungsanspruchs zu treffen, ohne dass ihm eine Normsetzungskompetenz zusteht. Insoweit hat unser Kollege in diesen zentralen Veröffentlichungen Grundrechtsorientierung und Sicherung des Demokratieprinzips miteinander verknüpft.
In der Festschrift für Armin Höland diskutierte er 2015 die Unverfügbarkeit des Anspruchs auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, das sowohl im AsylbLG als auch im SGB II den Sozialleistungsempfängern als Menschenrecht nach Art. 1 Abs. 1 GG zusteht. Der Anspruch ist an den konkreten Bedarfen der Betroffenen auszurichten, Einschränkungen und Sanktionen sind damit vereinbar, wenn der Schutz durch konkrete Zugriffsmöglichkeiten auf andere Weise zu erlangen ist. Aus seiner Sicht sind Leistungsminderungen damit nur vereinbar, soweit sich deren Umfang und Zeitdauer in zulässigem Rahmen bewegen, so dass er als Obergrenze eine Sanktionsfrist von drei Monaten formulierte. Der Bundestag hat sich im Bürgergeldgesetz im Grundsatz an diesem Maßstab weitgehend orientiert.
Diese Wertungen hat er 2016 in der Festschrift für Wolfhard Kohte fortgesetzt, in der er eine „verfassungsimmanente“ Pflicht zur Übernahme von Arbeitsgelegenheiten nach § 16 d SGB II („Ein-Euro-Jobs“) ablehnt, weil sie mit dem Kern des Freiheitsrechts nach Art. 12 Abs. 2 GG unvereinbar ist. Auch für diese Gruppe von Sozialleistungsempfängern gilt Art. 1 Abs. 1 GG, der allenfalls verhältnismäßige Einschränkungen legitimiert, auch wenn es einen weitergehenden gesellschaftlichen Konsens über wünschenswerte Einschränkungen gibt.
Gerade das öffentliche Meinungsbild in der Migrationskrise der letzten Monate zeigt, wie wichtig seine klaren Aussagen sind und welchen Verlust der Tod von Reimund Schmidt-De Caluwe bedeutet.
Das Sozialrecht bildete auch eine Konstante in seiner Lehrtätigkeit für das Schwerpunktstudium, zugleich für interdisziplinäre Lehrangebote und hier vor allem im Master-Studiengang Medizin-Ethik-Recht, den er auch als einer der Direktoren des gleichnamigen Interdisziplinären Wissenschaftlichen Zentrums verantwortete. In seiner Forschungstätigkeit zeigt es sich in gewichtigen Kommentierungen zu Vorschriften des Sozialgesetzbuchs. Zum Recht der Arbeitsförderung (Drittes Buch des Sozialgesetzbuchs) war er der wissenschaftliche Mitherausgeber des vorwiegend von Richtern aus der Sozialgerichtsbarkeit getragenen Großkommentars im Nomos-Verlag ab der dritten Auflage 2008 bis zur aktuellen siebten Auflage 2021. Darin kommentierte er die allgemeinen Vorschriften selbst. Außer dem Verfahrensrecht (Zehntes Buch des Sozialgesetzbuchs) bearbeitete er Vorschriften zur Gesetzlichen Krankenversicherung (Fünftes Buch des Sozialgesetzbuchs) über Organisation und Verfahren der Gremien, die über die Sicherstellung der ärztlichen Versorgung entscheiden. Dazu gehört eine Vorschrift über die Qualitätssicherung in der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung durch die Bewertung insbesondere von neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden.
In seiner Kommentierung klärt Reimund Schmidt-De Caluwe die Begriffe, definiert die „Neuheit“ einer Behandlungsmethode und diskutiert unter anderem die Bewertung des Nutzens von Methoden, die „auf der Grundlage eines sich von der naturwissenschaftlich geprägten ‚Schulmedizin‘ abgrenzenden, weltanschaulichen Denkansatzes größere Teile der Ärzteschaft und weite Bevölkerungskreise für sich eingenommen“ haben. Wer einen Eindruck davon bekommen möchte, wie Reimund Schmidt-De Caluwe seine akribische und kritische juristische Arbeit an der Gesetzesauslegung mit systematischem Weitblick für die weiteren Regelungsbezüge, argumentativer Prägnanz und Sensibilität für die im Recht bearbeiteten sozialen Konflikte unter den Bedingungen der Wertpluralität verband, lese diese beispielhafte Kommentierung zu § 135 SGB V. – Als er sie zuerst verfasste, konnte er nicht ahnen, dass ihm die hier ebenfalls wohl mitbehandelten Fragen eines „off label use“ von Pharmazeutika auch am eigenen Leibe begegnen würden.
Der vorbildliche Rechtswissenschaftler Reimund Schmidt-De Caluwe war zugleich ein vielfach in der akademischen Selbstverwaltung engagiertes Fakultätsmitglied, Evaluationsbeauftragter, Mitglied in der Graduiertenförderungskommission der Universität und für den Turnus von 2008 bis 2010 Prodekan und Sprecher der inzwischen als Juristischer Bereich mit den Wirtschaftswissenschaften zusammengefassten Juristischen Fakultät. Seine Meinungsäußerungen und Ratschläge in der Fakultät ließen sich nie von Aufgeregtheiten anstecken, waren sparsam, konzis und gezielt, nüchtern, klar und hilfreich. Die geselligen Begegnungen, die für das Zusammengehörigkeitsgefühl im Lehrstuhl- und Fakultätsleben ebenso wichtig sind, bereicherte er mit seiner gelassenen Präsenz, seiner aufmerksamen Zugewandtheit und seinem feinen Sinn für Humor. Von seiner persönlichen Wirkung als Hochschullehrer erzählen bewegende Einträge im Kondolenzbuch, das nach der Nachricht von seinem Tod im Juridicum auslag.
Zum Ende des Sommersemesters 2022 hat die Fakultät Reimund Schmidt-De Caluwe mit einem würdigenden Rückblick auf seinen Werdegang und sein Wirken in Halle aus dem aktiven Dienst verabschiedet. Der Ruhestand sollte noch mehr Zeit bieten für die Photographie, in der er mit anspruchsvollen, bei Gelegenheit auch öffentlich ausgestellten Werken seine künstlerische Seite entfaltete. Vor allem aber wollte Reimund Schmidt-De Caluwe mehr Zeit mit seiner Frau Josiane De Caluwe und dem Sohn Felix haben. Am Ende wurde es eine intensive, aber leider schmerzlich kurze Zeit.
Alle Mitglieder der Fakultät nehmen tief bewegt Anteil an der Trauer der Familie. Allen, die Reimund Schmidt-De Caluwe kannten, fehlt er. Wir bewahren ihm ein dankbares Andenken.
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Prof. Dr. Dirk Hanschel hat seit 2015 den Lehrstuhl für Deutsches, Europäisches und Internationales Öffentliches Recht an der MLU inne. Aktuell ist er Prodekan der Juristischen und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät.