Reil – Mediziner, Freimaurer und Menschenfreund
Das muss anders werden! Mit diesem ambitionierten Ziel brachten die beiden promovierten Literaturwissenschaftlerinnen Heidi Ritter und Eva Scherf jüngst eine bestens recherchierte und kurzweilig zu lesende Hommage des Doktor Reil im Hasenverlag heraus. Unter dem anschaulichen Titel „Habe unbändig viel zu tun …“ firmiert sie als Band 22 der beliebten und vielgelesenen Reihe „Mitteldeutsche Kulturhistorische Hefte“. Sollte derselbe dann etwa nicht mehr vorrätig sein, empfiehlt sich im kommenden Jahr eine Nachauflage zum 200. Todestag!
Reils Bedeutung für die Medizingeschichte, insbesondere seine Verdienste um die Erkenntnis der sozialen Dimension physischer und psychischer Leiden sowie ihrer Heilung sind seit langem unbestritten. Der Mensch indes blieb – sicher auch wegen der dürftigen Quellenlage – hinter seinem segensreichen Wirken immer merkwürdig blass. Um heutige Leser für ihn zu interessieren, haben die Autorinnen ihm „einige Injektionen Wirklichkeit verpasst“; sie entwarfen, über die dürren biografischen Fakten hinaus, ein anschauliches Bild vom alltäglichen Leben vor über 200 Jahren in der preußischen Provinz.
In sechs Kapiteln gelingt es ihnen optimal, den ernst blickenden Genius lebendig zu machen. Viele Bildnisse von Reil gibt es ja nicht, und das bekannteste ist eben jener Kupferstich aus dem Jahr 1811, der „Reil als Ritter des Roten Adler-Ordens“ zeigt, neben sich den symbolbeladenen Gallschen Totenschädel.
Aus der ostfriesischen Heimat brachte der 1759 geborene Pastorensohn Johann Christian (auf kurzem Umweg über Göttingen) nicht nur die von Toleranz geprägte Einstellung zu anderen Religionsgemeinschaften, sondern auch „das protestantische Arbeitsethos“ mit nach Preußen, wo er ab 1780 sein Medizinstudium an der halleschen Fridericiana fortsetzte und zwei Jahre später mit der von Johann Friedrich Gottlieb Goldhagen betreuten Promotion zum Doktor der Medizin und Chirurgie glücklich beendete.
Grimm und Goethe als Patienten
Es folgen ein obligatorisches Jahr im Hause des weltoffenen und liberalen Mediziners Marcus Herz, Leiter des jüdischen Krankenhauses in Berlin (der einige Jahre zuvor ebenfalls von Goldhagen in Halle promoviert worden war) sowie drei Jahre in der nordischen Heimat, wo er als praktischer Arzt tätig ist. 1787 kehrt er endgültig nach Halle zurück, „zunächst als Privatdozent, dann als Extraordinarius mit einen jährlichen Gehalt von 100 Talern“, ein Jahr später (nach Goldhagens Tod) bereits als ordentlicher Universitätsprofessor und Stadtphysikus, was ihm 600 plus 200 Taler pro Jahr einbringt. Endlich kann er eine Familie gründen und tut es. Auch die Freimaurerloge Zu den drei Degen, der er schon seit 1782 angehört, vermag er nun in vielerlei Hinsicht zu unterstützen. Er initiiert Grundstückskauf und Logenhausbau am Jägerberg: Ohne ihn hätte die Leopoldina heute wohl ein weniger prächtiges Domizil.
Reil ist mit bedeutenden Häuptern seiner Stadt und seiner Zeit bekannt: so mit Philipp Friedrich Theodor Meckel und Henrik Steffens als Kollegen, mit Wilhelm Grimm und Goethe als Patienten, Kostgänger und Ziehkind ist ihm Juda Löb Baruch – der später in Berlin unter dem Namen Ludwig Börne bekannt werden wird.
Die Kapitel „Diagnose des Elends“, „Therapie des Wahnsinns“ und „Kur für die Stadt“ sind über weite Passagen spannend wie ein Krimi. Mit gehörigem Gruseln liest man von rigorosen „psychischen Curmethoden“, mit Mitgefühl von Reils Engagement in der „Gesellschaft freywilliger Armenfreunde“ (und für deren Wohltätigkeit heischendes, vom Direktor der Franckeschen Stiftungen August Hermann Niemeyer und dem Pastor der Marienkirche Heinrich Balthasar Wagnitz herausgegebenes Hallisches Patriotisches Wochenblatt), mit Verwunderung vom Plan, Halle in einen Kurort zu verwandeln – letzteres wohl auch Ausdruck des Wunsches, der allgemeinen Verzweiflung nach dem Einmarsch der napoleonischen Truppen mit positiven Perspektiven zu begegnen.
Was man heute gelungene PR-Arbeit nennen würde, das beherrschte Reil schon vor über zwei Jahrhunderten – zum Beispiel als er sich 1804 und 1807 vehement für den Unterhalt der unehelich geborenen halleschen Waisenkinder Julius Cäsar und Octavianus Augustus Cäsar einsetzte, auf andere Weise wohl auch in seinen (zumindest teilweise von dem Franzosen Philippe Pinel und den Romantikern inspirierten) 1803 publizierten Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Wenig später (1808) gibt er dieser seiner Theorie den Namen Psychiatrie.
Doch die hallesche Universität ist bereits im Herbst 1806 auf Geheiß Napoleons geschlossen worden. Wie soll, wie kann es weitergehen? Reil erreichen Angebote aus Göttingen, Moskau, Freiburg und Berlin. Auf Humboldt vertrauend, glaubt er das Richtige zu tun: „In Berlin also liegt die Zukunft Preußens, nicht in Halle, das im neuen Königreich Westfalen plötzlich an den Rand gedrängt ist ...“
Übrigens hat auch die heute schier unübersehbare Menge medizinischer Ratgeberliteratur mindestens eine ihrer Wurzeln bei Reil. „Diaetetischer Hausarzt für meine Landsleute“ hieß sein Ratgeber über Ernährung, Bewegung und Sexualität, der im Jahr 1785 erschien.
► Heidi Ritter, Eva Scherf: Habe unbändig viel zu tun …, Halle 2011, 120 Seiten, mit 11 s/w Fotos und 60 s/w Abbildungen, 12,80 Euro, ISBN 978-3-939468-59-2