Olympia und Corona: „Werden die Spiele verschoben, gerät der innere Zeitplan durcheinander“
Die Corona-Pandemie hat auch in der Welt des Sports für große Unruhen gesorgt. Aber mit welcher Wucht dies im Einzelfall geschehen ist und mit was für Auswirkungen, darüber konnte bisher bestenfalls spekuliert werden. Für Violetta Oblinger-Peters war das der Ausgangspunkt, um tiefer in das Thema einzusteigen. „Denn bis dato war in der Öffentlichkeit vor allem zu hören, dass eine Verschiebung der Spiele wohl eher keine größeren Probleme für die Athleten mit sich bringen sollte.“
Die 43-jährige Kanutin wollte es genauer wissen. Auch, weil sie als ehemalige Olympiateilnehmerin den Trainingsrhythmus von Hochleistungssportlern aus eigener Erfahrung kennt. „Mein Leben als aktive Sportlerin hat sich streng in einem Vier-Jahres-Rhythmus abgespielt“, sagt sie. Ein Rhythmus, den man sich irgendwann im gesamten Leben zu eigen macht. Selbst ihre beiden Söhne seien im Abstand von vier Jahren geboren worden.
Keine Chance zum Aufatmen
Für ihre Studie befragte sie per Online-Portal alle Teilnehmer des österreichischen Olympia-Teams. „Dabei ging es nicht um sozial erwünschte Antworten, also auch nicht darum, sich für die Sponsoren ins rechte Licht rücken zu müssen“, erklärt sie. Von den rund 70 Mitgliedern des Teams haben sich 21 an der Befragung beteiligt. Die Antworten waren oft sehr ausführlich. Ein Ergebnis: Das Spektrum der Auswirkungen war breiter als gedacht, genau wie der individuelle Umgang mit der Verschiebung. Grundsätzlich ließ sich ein enormer Druck ablesen, dem die Athleten ausgesetzt waren. „Die Unsicherheit, wie es weiter geht, war und ist für viele schwer auszuhalten“, sagt Oblinger-Peters. „Sie haben darin vielfach keine Chance zum Aufatmen gesehen, sondern eher die Frage gestellt, ob sie ihre Leistung überhaupt auf dem aktuellen Level für ein Jahr halten können.“ Schließlich trainieren Hochleistungssportler üblicherweise über viele Monate auf einen sportlichen Höhepunkt hin. Sie können dann ihre maximale Leistung zum Beispiel genau zu den Olympischen Spielen abrufen. „Werden diese verschoben, gerät dieser innere und sensible Zeitplan durcheinander.“
Sehr häufig sei in der Befragung auch geschildert worden, dass die lange Qualifikationsphase als sehr anstrengend wahrgenommen wurde, als ein zehrender Prozess, der nun durch die Verschiebung der Spiele noch einmal verlängert werde. „Das kann ich wirklich gut nachempfinden und ich bin froh, dass dieser Kelch in meiner aktiven Laufbahn an mir vorbeigegangen ist“, sagt Oblinger-Peters, die 2008 in Peking eine Bronzemedaille gewann. Eine weitere Erkenntnis: Für viele bestimmt der Sport das gesamte Leben, den Alltag und aufgrund von Sponsorenverträgen auch die finanzielle Situation. Insofern sei es nicht verwunderlich, dass auch existenzielle Sorgen eine Rolle spielen. „Darauf wollte ich mit der Studie unbedingt aufmerksam machen“, sagt die Leistungssportlerin, die ihre Arbeit anlässlich der Tagung der Österreichischen Sportpsychologen öffentlich präsentiert hat.
Praktisch orientiertes Studium
Bereits jetzt berät und betreut Violetta Oblinger-Peters, die an der Uni Passau einen Abschluss zur Diplom-Kulturwirtin erworben hat und anschließend in Salzburg Psychologie studierte, vor allem österreichische Leistungssportler bei ihrem mentalen Training. Diese Dienste will sie künftig auch deutschen Athletinnen und Athleten anbieten. Seit dem Wintersemester 2019 belegt sie an der MLU den Masterstudiengang Sportpsychologie. Anfangs sei sie von ihrem Wohnort Schärding wöchentlich nach Halle gependelt. Das hat gut funktioniert, auch dank einer ICE-Verbindung, mit der sie in weniger als sechs Stunden an ihren Studienort gelangen konnte. „Im Zug konnte ich hervorragend arbeiten.“
Ihre kleine Wohnung am Reileck vermisst sie inzwischen, denn das Studium läuft coronabedingt komplett online, so dass sie den überwiegenden Teil der Zeit in Österreich verbringt. „Ich habe mich in Halle unglaublich wohl gefühlt und ich hätte gern mehr Zeit hier verbracht“, sagt sie mit Blick auf ihren bevorstehenden Abschluss im Sommer. Der hallesche Studiengang sei in seiner Art einzigartig in Deutschland. „Er ist sehr praktisch orientiert, genau das habe ich gesucht“, sagt die Kanutin. Und ergänzt: „Die Zusammenarbeit mit dem erfahrenen halleschen Sportpsychologen Prof. Dr. Oliver Stoll, der regelmäßig deutsche Olympiateilnehmer betreut, ist für mich enorm bereichernd gewesen.“
Das Kanufahren wurde Violetta Oblinger-Peters übrigens in die Wiege gelegt: Ihr Vater Wolfgang Peters war dreifacher Weltmeister im Einer-Kanadier, ihr Onkel doppelter Vizeweltmeister im Kajak. Ihre ersten eigenen Versuche in einem Boot unternahm sie auf der Ruhr, in deren Nähe sie aufwuchs. Das Wasser faszinierte sie dabei auf eine ganz eigene Weise. „Man muss es lesen können, um es zu beherrschen“, dies bringe sie auch ihren inzwischen acht und zwölf Jahre alten Söhnen bei. „Wenn man das Wasser mit seinen Strömungen, Wellentälern, Walzen und Kehrwassern verstanden hat, dann kann man dieses Medium nutzen.“
Seit 1994 ist die in Schwerte in Nordrhein-Westfalen gebürtige Deutsche mit dem österreichischen Slalomkanuten und heutigen Bundestrainer Helmut Oblinger verheiratet. Obwohl ihr momentan aufgrund von Studium und Arbeit kaum freie Zeit bleibt, kann sie nicht von ihrem Sport lassen: „Ohne Wildwasser geht es bei mir nicht.“
Zur Studie: Oblinger-Peters V., Krenn B. “Time for Recovery” or “Utter Uncertainty”? The Postponement of the Tokyo 2020 Olympic Games Through the Eyes of Olympic Athletes and Coaches. A Qualitative Study. Frontiers in Psychology (2020). doi: https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyg.2020.610856/full