Neue Materialien aus der Meerestiefe
Muscheln, Seeigel und Meeresschwämme liegen in Filipe Natalios Büro. Im Labor baut er gerade ein Aquarium auf. Auf dem Fensterbrett wachsen ein paar Baumwollpflanzen. „Nur ein Versuch. Mal sehen, was daraus wird.“ Dabei ist er Chemiker und kein Biologe. Zum 1. Dezember 2012 hat Natalio als Leiter der Nachwuchsgruppe für Bioanorganische und Biomimetische Chemie im Forschungnetzwerk „Nanostrukturierte Materialien“ an der MLU angefangen.
Am Institut für Chemie ist er zurzeit dabei, sich Büro und Labor einzurichten, Gelder für Projekte einzuwerben und Doktoranden für seine Nachwuchsgruppe zu gewinnen. „Wir sind sehr froh, dass wir unsere Nachwuchsgruppen mit herausragenden jungen Wissenschaftlern besetzen konnten“, sagt Prof. Dr. Ingrid Mertig, Sprecherin des Forschungsnetzwerks. „Die Gruppe von Filipe Natalio nimmt einen besonderen Platz im Netzwerk ein, indem sie mit ihrem Fachgebiet der Biomimetischen Materialsynthese eine Brücke zum Forschungsnetzwerk Biowissenschaften schlägt“, so Mertig.
In Halle will sich der Portugiese bald Korallen und Strahlentierchen widmen. Die winzigen Strahlentierchen schwimmen als Plankton im Meer. Sie bestehen – wie Korallen, Muschelschalen und Meeresschwämme auch – aus Biomineral. Biominerale besitzen wertvolle, teils einzigartige Eigenschaften. Für Biomimetik-Forscher sind sie für die Entwicklung neuer Werkstoffe deshalb besonders interessant.
„Ein Tiefseeschwamm ist zum Beispiel sehr systematisch aufgebaut. Er hat die perfekte Struktur, ist extrem resistent und leichtgewichtig. Er leitet Licht und man kann ihn sogar als mathematisches Modell abbilden“, erzählt Filipe Natalio, der ein paar der Meerestiere in seinen Schränken aufbewahrt.
Filigran und zerbrechlich wirken die Schwämme, die auf dem Meeresgrund einen immensen Wasserdruck aushalten müssen. Dabei steuern die gesteinsbildenden Lebewesen selbst, wie sich Minerale und organischen Bestandteile systematisch so anordnen, dass hochkomplexe, effiziente Skelettstrukturen entstehen. Dieser allmähliche Wachstumsprozess wird als Biomineralisation bezeichnet.
Weil die Forscher den Organismen beim Wachsen auf dem Meeresgrund schlecht zuschauen können, möchte Natalio diesen Prozess in seinem Aquarium beobachten. „Wir arbeiten sonst nur mit den ausgewachsenen Exemplaren. Wenn wir aber verstehen, wie Meerestiere wie Schwämme oder Kieselalgen wachsen, können wir diesen Prozess kopieren und damit neue Materialien entwickeln.“ Diese könnten zum Beispiel künftig in der Medizin als neuartige Knochenimplantate genutzt werden.
Natalio hat an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz zum ersten Mal mit Meeresschwämmen gearbeitet. Dort wurde er bei Professor Werner Müller, einem renommierten deutschen Schwamm-Experten, promoviert. In seiner Doktorarbeit entwickelte er ein Material, das zum Beispiel bei Knochenkrebspatienten als Knochenersatzmaterial dienen könnte.
Als "Post Doc" beschäftigte er sich in Mainz mit Meeresalgen und ihrer Resitenz gegen Bakterienbefall. Mithilfe von Nanopartikelnentwickelte er einen Schiffslack, der gegen Algen- und Bakterienbefall im Meerwasser resistent ist. Die Arbeit wurde 2012 in „Nature Nanotechnology“ publiziert und von BASF patentiert.
Auch die Studie, die am 15. März im renommierten Wissenschaftsmagazin „Science“ veröffentlicht wurde, ist noch in Mainz entstanden. Darin beschreibt der 34-Jährige die Entwicklung eines neuen Materials, das außergewöhnlich robust und zugleich so biegsam wie Gummi ist. Glasschwämme dienten dafür als Inspiration. Die stangenartigen Tiere leben seit mehr als 500 Millionen Jahren auf dem Meeresgrund.
Sie bestehen aus nadelförmigen Skelettelementen, die durch Biomineralisation aus dem Mineral Kalzit und einem organischem Kleber (Proteine) Schicht um Schicht zu einer perfekten Struktur anwachsen. „Diesen natürlichen Entstehungsprozess haben wir versucht zu kopieren, indem wir im Labor Silikateine zu Kalzit-Nanopartikeln hinzugefügt haben“, erläutert Natalio. Mit Hilfe des Proteins Silikatein bilden einige Schwammarten ihr Skelett.
Der Prozess ist mit einer Kristallisation vergleichbar. „Aber statt wie bei einer Kristallisation einen Kristall mit Ecken und Kanten zu bilden, wuchsen längliche Stäbe, die aussahen wie Zigarren“, erzählt Natalio. Jeder der nadelförmigen „Stäbe“ besteht aus winzigen Nanopartikeln aus Kalzit. Außerlich ähnelten sie ihren natürlichen Vorbildern. Zur Überraschung der Forscher erwiesen sie sich aber als dreimal so robust. Selbst wenn sie im 180-Grad-Winkel zu einem U gebogen werden, überstehen die Nadeln diese extreme Belastung nahezu unbeschadet.
Die künstlichen Skelettnadeln im Video:
Dahinter steckt ein bislang unbekannter Aufbaumechanismus des Biominerals: Die Silikateine wirken wie ein Schmiermittel, das die Kalzit-Nanopartikel miteinander verbindet und zugleich die Elastizität der Struktur erhält. Dem Team um Filipe Natalio ist es damit gelungen, den natürlichen Bauplan dieses Biominerals zu entschlüsseln und das erste biomimetische Biomineral mit ähnlichen bzw. sogar verbesserten Eigenschaften zu entwickeln.