Mit dem Blick des Alters
My home is my castle! Mit zunehmendem Alter und nachlassender Aktivität verbringen die Menschen die meiste Zeit des Tages in den eigenen vier Wänden. Das Wohnzimmer wird zum Lebensmittelpunkt. Allerdings entwickelt sich das geliebte Heim auch zum Ort mit Hindernissen. Eine veränderte Wahrnehmung ist ein weiteres Problem. Doch wie fühlt sich Wohnen im Alter überhaupt an? Speziell für an Demenz erkrankte Personen? Welche Hilfsmittel oder Modifikationen sind möglich? Erkenntnisse darüber und der geschulte Blick für Anpassungsmöglichkeiten sind für Ärzte, Pflegekräfte und pflegende Angehörige von hoher Bedeutung. Gerade wenn es darum geht, das Wohnumfeld der Betroffenen zu optimieren, um ihnen ein möglichst langes Leben in den eigenen vier Wänden, eine selbstbestimmte Lebensgestaltung zu ermöglichen.
Das Projekt FORMAT der Martin-Luther-Universität hat dieses Problem aufgegriffen und entwickelt im Rahmen eines Bürgerforschungsprojekts eine wissenschaftlich gestützte virtuelle Lernsoftware, deren Prototyp kürzlich im Zukunftslabor des Dorothea Erxleben Lernzentrums vorgestellt wurde. Mithilfe dieser Software und einer Virtual-Reality-Brille ist es möglich, direkt in die Welt eines Betroffenen einzutauchen. „Dadurch hat jeder die Möglichkeit, die Wohnung mit den Augen eines alternden Menschen zu erkunden und dabei durchaus auch Schrecksekunden zu erleben, weil man mit allerlei Wahrnehmungsstörungen und Stolperfallen konfrontiert wird“, erklärt Dr. Karsten Schwarz, Koordinator des FORMAT-Projekts.
Simuliert wird dabei ein Rundgang durch eine fiktive Wohnung mit all den krankheitsbedingten Wahrnehmungsstörungen bei Altersdemenz. „Hat man die Brille auf und läuft mit eingeschränktem Blick die Räume ab, kann man beispielsweise erfahren, wie irritierend Farben oder Muster von Einrichtungsgegenständen wirken und dabei zu Unsicherheiten führen“, sagt der 37-Jährige. Überraschungen sind nicht ausgeschlossen. „Dunkle Stellen im Teppich werden plötzlich als tiefe Löcher wahrgenommen oder glänzender Fußbodenbelag wird zu einer Eisfläche“, erklärt die Pflegewissenschaftlerin Christine Schiller. Künftig soll dieser virtuelle Ausflug Pflegende und Mediziner durch immersive Selbsterfahrung für wissenschaftlich fundierte Wahrnehmungsverschiebungen bei älteren Menschen sensibilisieren. Was auch heißt, die Wohnraumgestaltung weniger nach ästhetischen, sondern vielmehr nach autonomieerhaltenden Kriterien anzugehen.
Die unter dem Arbeitstitel „Virtuelles Wohnraum-Assessment für Ärzte, Pflegekräfte und pflegende Angehörige“ programmierte VR-Lernsoftware ist ein Novum im Bereich der Pflegewissenschaft, betont Dr. Karsten Schwarz. Unter seiner technischen Anleitung wurde das Projekt in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und Operations Research (WIOR) der MLU von Wirtschaftsinformatikstudenten umgesetzt. Fachlich beraten wurden sie dabei von der Pflegewissenschaftlerin und Dementia Care Nurse (DCN) Christine Schiller – DCN ist ein Uni-Projekt, in dem Menschen mit Demenz sowie ihre Angehörigen informiert, beraten und begleitet werden. Nach gut einjähriger Entwicklungszeit habe man mit der Prototypphase die nächste Hürde genommen und könne so dem Fachpublikum auf der diesjährigen Hannover Messe einen Vorgeschmack darauf geben, was die VR-Lernsoftware in ausgereifter Version künftig leisten kann. Dabei wird sich das Team vom 1. bis 5. April am Gemeinschaftsstand „Forschung für die Zukunft“ der Forschungseinrichtungen der Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen präsentieren.
Das Forschungsprojekt zur VR-Lernsoftware ist zudem ein gutes Beispiel für gelungene Netzwerkpartnerschaft und Bündelung von Fördermitteln. Gleich mehrere Partner und Förderer sind im Boot. So ist neben dem FORMAT-Projekt, der DCN aus dem Landesforschungsverbund „Autonomie im Alter“ und dem Lehrstuhl WIOR ebenfalls das hallesche Openlab-Netzwerk involviert. Das Openlab-Netzwerk konnte eine Förderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung über das Citizen-Science-Projekt „Openlab.net – Make Science!“ zur Umsetzung als Bürgerforschungsprojekt gewinnen. Hier wird es vom Transfer- und Gründerservice der MLU koordiniert. „Schließlich entsteht mit der VR-Lernsoftware zugleich ein innovatives Produkt, das für Startups interessant ist, die aus der Uni ausgründen wollen“, erklärt Anja Richter, Projektmanagerin des Ideen-Inkubators vom Transfer- und Gründerservice. Auch vor diesem Hintergrund laufen die Entwicklungsarbeiten im Ideen-Inkubator gleich in unmittelbarer Nähe zum Gründerservice. In ihm können Studierende und wissenschaftliche Mitarbeiter ihre Ideen auf Machbarkeit testen, Prototypen entwickeln oder bauen und dank der Beratung des Transfer- und Gründerservice auf Verwertungspotenziale prüfen. Hier können die Projektbeteiligten kostenfrei auf Labore und eine 3D- und Virtual Reality-Werkstatt sowie die benötigte Technik zurückgreifen.
Doch noch steckt die VR-Lernsoftware in den Kinderschuhen. Um sie realistischer zu programmieren, brauchen die Entwickler zur Virtualisierung echten Wohnraum – in unterschiedlicher Ausprägung. „Uns interessieren alle Formen des altersgerechten Wohnens, egal ob im Neubau, im Eigenheim, Altersheim oder im Altbau“ sagt Richter. Gesucht werden deshalb Menschen im höheren Lebensalter, gern auch in Begleitung ihrer pflegenden Angehörigen, die bereit sind, ihre Wohnung zur Visualisierung in einer solchen Lernsoftware zur Verfügung zu stellen. Der Schutz der Privatsphäre wird vom Projektteam garantiert. Alle virtuellen Rundgänge, die per Scan erfasst werden, werden mit den Bewohnern bis zu deren bedenkenloser Freigabe bearbeitet.
Dr. Karsten Schwarz
Dorothea Erxleben Lernzentrum Halle
Tel. +49 345 557-4010
E-Mail: karsten.schwarz@medizin.uni-halle.de
Anja Richter
Transfer- und Gründerservice - Ideen-Inkubator
Tel. +49 345 55-22957
E-Mail: anja.richter@gruendung.uni-halle.de