Viel mehr als Rechnen

04.07.2024 von Tom Leonhardt in Im Fokus, Wissenschaft, Studium und Lehre
Guter Mathematikunterricht ist vieles, aber nicht still, sagen Prof. Dr. Kirstin Erath und Dr. Anna-Marietha Vogler. Ihren Studierenden vermitteln sie forschungsbasiertes Wissen und die Kompetenzen, um einen zeitgemäßen Unterricht gestalten zu können.
Die Lehramtsstudierenden Sarah Schmohl (links) und Paulina Wieland testen das „Klammergebirge“ aus, mit dem sich die Rechenschritte bildlich strukturieren lassen. Gerechnet wird von „oben nach unten“.
Die Lehramtsstudierenden Sarah Schmohl (links) und Paulina Wieland testen das „Klammergebirge“ aus, mit dem sich die Rechenschritte bildlich strukturieren lassen. Gerechnet wird von „oben nach unten“. (Foto: Heiko Rebsch)

Wenn die kleinen Roboter in der mathematikdidaktischen Werkstatt loslegen, wird es bunt, ein bisschen laut und sehr lehrreich. Der „Ozobot“ etwa fährt vorher mit dem Stift gezeichnete Linien ab und ändert je nach Stiftfarbe seine Beleuchtung. Aber nicht nur das: Erkennt der Roboter bestimmte Farbfolgen, gibt er Töne von sich, führt einen Tanz auf oder dreht sich auf der Stelle und fährt zurück. Daneben gibt es noch die Bee-Bots, Roboter in Bienen-Optik, die sich per Knopfdruck programmieren lassen. „Mit den Robotern lässt sich spielerisch veranschaulichen, was ein Algorithmus ist und wie er funktioniert“, sagt Dr. Anna-Marietha Vogler, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Didaktik der Mathematik von Prof. Dr. Kirstin Erath tätig ist. Ein Algorithmus ist eine fundamentale Idee der Mathematik, er ist eine eindeutige Anweisung zur Lösung eines Problems inklusive aller Teilschritte. Für die kleinen Roboter ist das zum Beispiel der Auftrag, eine Strecke wie gewünscht zurückzulegen und dabei im besten Fall nicht vom Tisch zu fallen.

In der Mathematik kommen Algorithmen überall zum Einsatz, etwa bei der Lösung von Gleichungen. Das könnte man Schülerinnen und Schülern im Frontalunterricht erklären und darauf hoffen, dass sie es verstehen. Aber: „Mathematik lernt man nicht vom Zuschauen oder indem mir jemand etwas erzählt“, sagt Kirstin Erath. „Guter Mathematikunterricht ist keine Einbahnstraße. Er ist nicht still, sondern aktiviert die Kinder und Jugendlichen. Es gibt viele Interaktionen zwischen der Lehrkraft und der Klasse und unter den Schülerinnen und Schülern. Alle sollen daran teilhaben.“

Verstehen anstatt nur zu üben

Kirstin Erath
Kirstin Erath (Foto: Heiko Rebsch)
Anna-Marietha Vogler
Anna-Marietha Vogler (Foto: Heiko Rebsch)

Diese Grundüberzeugung ist Teil eines größeren Wandels des Mathematikunterrichts: Vor einigen Jahrzehnten sei das Ziel noch gewesen, dass Schülerinnen und Schüler vor allem rechnen lernen. „Das ist heute nicht mehr im gleichen Maße nötig. Jetzt geht es mehr darum, das kritische Denken zu fördern“, sagt Erath. Das bedeute, die Themen gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern zu erarbeiten und ihre Ideen ernst zu nehmen. „Auch zu Beginn ihrer Schulzeit kommen Schülerinnen und Schüler nicht als unbeschriebene Blätter in den Unterricht. Sie haben viele Vorerfahrungen, auch mathematische, an die man anschließen kann“, sagt Vogler.

Um über Mathematik zu sprechen, seien keine besonderen Vokabeln nötig, die Schülerinnen und Schüler zunächst auswendig lernen müssten. „Guter Unterricht fängt immer mit einem Alltagsbezug an. Erst auf einer abstrakteren Ebene sind Fachvokabeln nötig, die sich dann aber im Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern entwickeln.“ Ziel des Unterrichts sollte sein, dass Kinder nicht nur Mathematik als Disziplin verstehen, sondern genauso lernen, ihre Welt zu verstehen und zu gestalten. Und dass sie die nötigen Kompetenzen dafür erlernen, etwa zum Erkennen von Mustern oder zum Lösen von reellen Problemen mit mathematischen Methoden. Erath und Vogler sprechen hier von „anschlussfähigem Lernen“ und „anwendungsbereitem Wissen“. Im Rahmen einer wissenschaftlichen Hausarbeit hat eine Studierende Schülerinnen und Schüler zum Beispiel die Feinstaubbelastung im Klassenzimmer messen lassen. Dadurch lernten die Kinder nicht nur etwas über das Erheben von Daten und das Berechnen verschiedener Kenngrößen, sondern auch kritisches Denken.  

Dass die beiden Wissenschaftlerinnen den Fokus etwas weniger aufs Rechnen und mehr aufs Sprechen, Argumentieren und Diskutieren legen, hat noch einen weiteren Grund: Es hilft mehr. Das zeigt zum Beispiel eine Studie, die Erath gemeinsam mit Forscherinnen aus Dortmund und Kiel durchgeführt hat. Sie konnten in einer Interventionsstudie mit knapp 600 Kindern und Jugendlichen nachweisen, dass sich das mathematische Verständnis und die Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler verbessern, wenn im Unterricht mehr über mathematische Ideen diskutiert wird. Die Erkenntnisse aus der Forschung fließen immer wieder in die Lehrveranstaltungen am Institut für Mathematik zurück.

Mehr Flexibilität wagen

Mit Bee-Bots lässt sich veranschaulichen, was ein Algorithmus ist.
Mit Bee-Bots lässt sich veranschaulichen, was ein Algorithmus ist. (Foto: Heiko Rebsch)

Drei Module im Lehramtsstudium bietet das Team von Erath angehenden Mathematiklehrerinnen und -lehrern an der MLU. Sie bieten eine Mischung aus fachdidaktischem Know-how und Metawissen, das zum Beispiel beim Planen und Reflektieren des Unterrichts sowie zur Leistungskontrolle hilft. Dazu gehören auch Kenntnisse über verschiedene Methoden zur Wissensvermittlung und die Fähigkeit, zu erkennen, wann welche Methode sinnvoll eingesetzt werden könnte. In der Geometrie könnte man beispielsweise durch die Arbeit mit Papier, Falten und Schneiden mathematische Konzepte veranschaulichen oder am Bildschirm mit spezieller Software arbeiten.

In den Lehrveranstaltungen wird es auch gern einmal grundsätzlich: „Wir diskutieren mit unseren Studierenden zu Beginn darüber, was Mathematik eigentlich ist. Mathematik muss weniger als festgelegter Wissenskanon verstanden werden, der von Einzelnen isoliert entdeckt oder erschaffen wird. Vielmehr konstituiert sich mathematisches Wissen durch Interaktionen zwischen Beteiligten und zeichnet sich durch ihre Flexibilität beispielsweise beim Lösen von Problemen aus“, so Vogler. Das Verständnis dafür ist nötig, um die künftigen Lehrkräfte auf diese andere Art von Mathematikunterricht einzustimmen.

„Unsere Studierenden haben häufig einen eher traditionellen Unterricht durchlaufen und waren dabei erfolgreich. Sonst wären sie nicht hier. Mit diesen tradierten Erfahrungen müssen wir arbeiten und sie dafür sensibilisieren, dass der Unterricht, der für mich funktioniert hat, vielleicht nicht für alle anderen genauso gewesen ist. Alle Kinder haben unterschiedliche Voraussetzungen und diesen sollte guter Unterricht gerecht werden“, erklärt Erath.

Selbst erproben können die Studierenden all das im Rahmen verschiedener Schulpraktika und über die verpflichtenden Schulpraktischen Übungen (SPÜ). Die Idee: Bereits im Studium sollen die angehenden Lehrerinnen und Lehrer, intensiv betreut durch ihre Dozierenden, erste Unterrichtserfahrung sammeln. Dazu gehören Seminare zum Planen des Unterrichts, Hospitationen, erste eigene Stunden und eine nachträgliche Auswertung. „Das ist für alle Beteiligten sehr aufwändig, aber eine echte Chance: Wir führen unsere Studierenden begleitet an die Praxis ran und legen damit eine gute Basis. Das gibt es in anderen Bundesländern in der Form nur selten“, so Erath.

Die Ansprüche an die Lehrkräfte der Zukunft sind hoch. „In meinen Vorlesungen erkläre ich den Studierenden erst einmal den Idealtyp. Das nenne ich ‚Einhörner, die auf Regenbögen tanzen‘“, sagt Erath und lacht. In den SPÜ und anderen Schulpraktika gehe es dann darum, diese Idealvorstellungen mit der Realität zu vereinen – ohne dabei in traditionelle Muster zu verfallen. „Natürlich ist nicht immer alles möglich. Vielleicht muss der Regenbogen wegfallen, aber tanzende Einhörner gibt es immer noch!“

Da selbst zwei Klassen in einem Jahrgang sehr unterschiedlich sein können, ist es nötig, flexibel didaktisch fundierte Entscheidungen für den jeweiligen Unterricht zu treffen, sagt Anna-Marietha Vogler. „Es gibt keine allgemeingültigen Unterrichtsvorlagen. Auch wenn das viele Seiten im Internet suggerieren. Sinnvoll ist es dann, kritisch hinterfragen zu können und selbst weiter zu entwickeln.“ Auch die Studierenden würden deshalb für ihr späteres Berufsleben ein „flexibles, anwendungsbereites didaktisches Wissen“ benötigen. Nur so könne man souverän auf neue Herausforderungen und Themen reagieren, ergänzt Kirstin Erath. „Der Mathematikunterricht wird in zehn Jahren ganz anders funktionieren als heute“, ist sie sicher.

Auch die Themen Künstliche Intelligenz und digitale Medien sind seit einiger Zeit in ihren Lehrveranstaltungen präsent. „In Sachsen-Anhalt steht das Thema Bildung in der digitalen Welt für die Mathematik im Lehrplan und ist damit verpflichtend“, freut sich Vogler. Ziel sei es, Mathematik mit digitalen Medien noch einmal anders begreifbar zu machen.

Künstliche Intelligenz werde künftig noch zentraler, meint Vogler, weil sie ganze Prozesse übernehmen kann. Dem Mathematikunterricht käme so noch mehr die Aufgabe zu, kritisches Denken über diese Vorgänge zu ermöglichen und die Fähigkeiten bereitzustellen, zum Beispiel mit Hilfe von KI Probleme zu lösen. Dazu gehöre natürlich auch weiterhin, im Alltag zu wissen, welche Rechenoperationen bei einem konkreten mathematischen Problem behilflich sein könnten, und diese dann einzusetzen.

Ihr Wissen bieten die Forscherinnen seit 2022 auch als Fortbildung für Lehrkräfte in Sachsen-Anhalt an. In diesem Jahr kamen rund 100 Lehrkräfte dafür ins Institut für Mathematik. „Besonders gefreut hat mich das Feedback, dass unsere Vorschläge gut in den eigenen Unterricht integriert werden können“, sagt Erath. Die Entwicklung und Erforschung von Fortbildungen für Lehrkräfte steht auch im Zentrum eines internationalen Projekts, das Erath gemeinsam mit der University of Oxford durchführt.

Prof. Dr. Kirstin Erath
Institut für Mathematik
Tel. +49 345 55-24612
Mail kirstin.erath@mathematik.uni-halle.de

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Mathematik

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