Halle und Wittenberg: Zwischen Jubiläumsfeiern und Phantomschmerzen
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass es zum ersten Mal eine solche Untersuchung der Beziehungen zwischen der Uni Halle und der Stadt Wittenberg seit 1817 gibt. Hat das einen Grund?
Peer Pasternack: Nun, zunächst einmal hat die Wittenberger Universität selbst auch nach ihrer Auflösung Aufmerksamkeit erzeugt. Das kulminierte in der 1917 veröffentlichten Universitätsgeschichte von Walter Friedensburg und reichlich 100 Jahre später in dem grandiosen Werk von Heiner Lück „Alma Leucorea“. Beide schließen naturgemäß mit dem Ende der Wittenberger Universität 1817 ab. Dass es an der Zeit danach nicht so ein Interesse gab, könnte daran liegen, dass sich darüber keine glanzvolle Beziehungsgeschichte schreiben lässt.
Wenn ich richtig gelesen habe, ist sie das aus Ihrer Sicht bis heute nicht, auch wenn es historische Bezüge zum Beispiel bei der jährlichen Disputation des Akademischen Senats am Reformationstag gibt. Was war jetzt der Anlass, sich jetzt dennoch mit ihr zu befassen?
Die Website www.uni-wittenberg.de, die wir 2020 erarbeitet und im Januar 2021 online geschaltet haben. Sie beschäftigt sich in erster Linie mit der Uni Wittenberg bis 1817, hat aber auch zwei Rubriken über die Zeit danach, in der die Stadt Wittenberg immer einmal wieder Anstrengungen unternommen hat, um diese besondere Beziehung zu einer Universität für ihre eigene Entwicklung zu mobilisieren. Hier ist es ein generell interessanter Punkt, wie Hochschulen damit umgehen, dass sie zwei Städte miteinander verbinden, die sonst eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Denken Sie an Koblenz und Landau, Erlangen und Nürnberg oder Magdeburg und Stendal. Dann gibt es die zweite Besonderheit, dass es um 1800 ein größeres Universitätssterben in Deutschland gab und eine Reihe davon betroffener Städte später wieder eine neue Universität bekam, Wittenberg aber nicht. Bei Halle und Wittenberg war zudem speziell, dass es de jure eine Vereinigung war, die Universität Wittenberg aber faktisch aufgelöst wurde. Das ist auch hochschul- und stadtsoziologisch interessant.
Inwiefern?
In Wittenberg gibt es bis heute Phantomschmerzen in Bezug auf den Verlust der Universität. Daraus resultiert ein Beharren darauf, etwas wiederkriegen zu müssen. Das führte dann manchmal zu Ideen, die schlichtweg unrealistisch waren. Anfang der 1990er Jahre war es zum Beispiel die Idee, man könnte die Universität wiedergründen. Das ist in Erfurt und Frankfurt an der Oder auch gelungen, aber in Wittenberg halt nicht. Dann kam die Idee auf, wenigstens einen Außenstandort der MLU zu errichten – etwa eine Fakultät zu verlagern, vorzugsweise die theologische. An solchen Gedanken merkte man, dass nach anderthalb Jahrhunderten ohne Universität eine gewisse Unkenntnis zu einem modernen Uni-Betrieb bestand. In Wittenberg gibt es die Wahrnehmung, dass die MLU vom Land zwar jede Menge Geld erhalte, aber nicht in der Lage sei, einen kleinen Anteil an Wittenberg weiterzugeben. Allerdings war die MLU im Laufe der letzten 25 Jahre drei Sparrunden unterworfen. Jedes Rektorat, das expansiv in Wittenberg tätig geworden wäre, hätte sich selbst aus dem Amt gekegelt. Mein Interesse war es jetzt jedenfalls, genauer nachzuschauen, ob Wittenberg eher bedeutungslos für Halle gewesen beziehungsweise im Laufe der Zeit geworden ist oder ob es da Fehlwahrnehmungen gibt.
Und?
Am Ende kann man sagen, dass es über die 200 Jahre hin ein Auf und Ab der Beziehungsdichte gab. Manchmal war sie sehr locker, manchmal etwas verfestigter. Und sie war praktisch immer von dem Interesse einzelner Personen abhängig. In Wittenberg waren es Menschen wie Oskar Thulin, der Direktor des Museums Lutherhalle, die sich dafür eingesetzt haben, die Verbindung zu pflegen. In Halle Wissenschaftler wie August Tholuck, Kurt Aland oder zuletzt Heiner Lück, der seit den 1980er Jahren mit bemerkenswerter Konstanz Wittenberger Fragestellungen bearbeitet.
Sie teilen Ihr Buch chronologisch ein in Zeiten mit den unterschiedlichsten politischen Rahmenbedingungen. Gibt es eine Phase, in der die Beziehung Halle-Wittenberg unerwünscht war?
Nein. Schon im 19. Jahrhundert war sie von den preußischen Behörden gewünscht. Damals wurde eine „Lutherisierung“ Wittenbergs inszeniert, dazu brauchte man wissenschaftliche Unterstützung. Auch im Nationalsozialismus gab es das Bestreben, Luther zu instrumentalisieren – und die Universität war aufgefordert, dazu beizutragen. Es gab zum Beispiel die Wittenberger Universitätsvorträge, zu denen hallesche Professoren von 1937 bis 1943 nach Wittenberg fuhren. Die DDR hat sich dann etwa 20 Jahre lang sehr schwer getan mit Wittenberg und der Reformation, auch wenn sie diszipliniert die einschlägigen Jubiläen gefeiert hat. Erst mit dem Reformationsjubiläum 1967 begann ein zaghafter Stimmungsumschwung. Die Reformation wurde nun betrachtet als ein Erbe, das die Bürgerliche Revolution vorbereitet habe – und damit auch die sozialistische Revolution. Zudem wurde Luther als Spracherneuerer gewürdigt. Es gab also immer den Druck auf die hallesche Universität, sich um Wittenberg zu kümmern. 1958 wäre sogar fast eine Quasi-Außenstelle entstanden.
Aber nur fast?
Tatsächlich wurde eine „Forschungsstelle Weimarer Ausgabe“ der Luther-Schriften an der Lutherhalle Wittenberg gegründet. In der DDR gab es nirgendwo eine so dichte Überlieferung von Luthers Werken wie dort. Die Leitung übernahm der Theologe und Reformationshistoriker Kurt Aland aus Halle. Der ist aber genau im selben Jahr verhaftet worden, weil es mal wieder eine politische Zuspitzung gab und die DDR auf der Suche nach amerikanischen Agenten war. Aland wurde verdächtigt und war drei Monate in Untersuchungshaft. Danach hat ihn die Uni entlassen und er floh schnurstracks nach Westdeutschland. Damit war auch die Außenstelle hinfällig.
Sie haben vorhin erklärt, dass die Beziehung stets erwünscht war. Im Buch erwähnen Sie, dass sie immer wieder aufblühte, wenn es Jubiläen zu feiern gab. Unabhängig davon: Wann war sie denn am stärksten?
Relativ intensiv ist sie im 19. Jahrhundert gewesen. Damals gab es noch – offiziell sogar bis 1952 – die Königliche Universitätsverwaltung zu Wittenberg, die die alten Anrechte und Gelder der Leucorea verwaltete und jährlich Geld nach Halle überwiesen hat. Es gab zum Beispiel zehn Universitätsdörfer, die der Leucorea vom Kurfürsten zugesprochen worden waren und in denen die Universität Steuern erhoben hat. Diese Anrechte waren mit der Vereinigung nicht entfallen. Die Erträge daraus wurden in Halle zum Beispiel für Anschaffungen der Bibliothek, den studentischen Gesundheitsfonds oder Stipendien genutzt. Auf jeden Fall gab es eine sehr intensive Zusammenarbeit zwischen der Universitätsverwaltung zu Wittenberg und der Universität Halle, vor allem über das hallesche „Kollegium der Professoren Wittenberger Stiftung“ – zumindest bis 1897, solange war die Wittenberger Verwaltung hauptamtlich.
Der Titel Ihres Buches ist „Lose gekoppelt“. Ist die fehlende enge Bindung kritikwürdig? Und in dem Zusammenhang: Sie sind selbst lange Direktor des Instituts für Hochschulforschung – mit Sitz in Wittenberg. Sehen Sie das Thema mit einer „Wittenberger Brille“?
Zur letzten Frage: allenfalls indirekt. Unser Institut wäre ja nie in Wittenberg angesiedelt worden, wenn es in Wittenberg noch oder wieder eine Universität gäbe. Insofern: Wir haben von der Situation profitiert (lacht). Ich versuche, Bewertungen daraufhin zu prüfen, ob sie berechtigt sind oder nicht. Und da wiederhole ich mich: Es gab Ideen, die waren überspannt, und manche Wiederbelebungsideen waren nicht bis zum Ende durchdacht. In den 1990ern und Anfang der 2000er Jahre sind neun Einrichtungen in der Stiftung Leucorea gegründet worden, von denen dann sechs wieder aufgelöst oder nach Halle zurückgezogen wurden, zum Beispiel das Mesrop-Zentrum für Armenische Studien oder das Leopold-Zunz-Zentrum zur Erforschung des europäischen Judentums. Es gab kein richtiges Konzept, sondern eher zufällige Initiativen, was man denn in Wittenberg machen könne. Dafür ist aber nicht allein die Universität Halle verantwortlich. Es gab relativ häufige Führungswechsel in der Stiftung, und es fehlte auch am Engagement der Landesregierung – interessanterweise, obwohl es seit mittlerweile mehr als 20 Jahren Ministerpräsidenten aus Wittenberg gibt. Die Erklärung dafür ist wohl: Sie wollten nicht in den Verdacht geraten, ihre Heimatstadt zu bevorteilen.
Kann man heute dennoch zufrieden sein mit der Situation?
Aus Wittenberger Sicht denke ich nicht. Es gibt eine ganze Menge hier, die Stiftung Leucorea, das Institut für Hochschulforschung, die Reformationsgeschichtliche Forschungsbibliothek und so weiter. Wir alle bemühen uns zu zeigen, dass wir etwas für die Stadt tun können, aber: Unser Publikum sitzt in der Welt und eher nicht in Wittenberg. Forschungseinrichtungen führen zudem nicht wirklich zu einer Belebung der Stadt, auch Tagungen dauern immer nur zwei, drei Tage. Es bräuchte eine verstetigte Bildungseinrichtung.
Aber man kann nicht sagen, dass die Uni Halle Schuld daran ist, dass es diese nicht gibt?
Na ja, für letzteres ist sie nicht verantwortlich. Aber man könnte vielleicht fragen, ob die Forschung zur Reformationsgeschichte an der Theologischen Fakultät intensiv genug ist für eine Universität, die Halle-Wittenberg heißt. An der Universität Leipzig ist das Thema präsenter, das sieht man allein an der Schriftenreihe der Stiftung Leucorea. Das ist aber nicht erst seit 1994 so.
Woran liegt das?
Da sehe ich zwei Gründe. Die Leucorea in Wittenberg hatte sich zu einer lutherisch-orthodoxen Hochschule entwickelt, das blieb das ganze 17. Jahrhundert so. Und Halle war 1694 gleichsam eine Gegengründung, gegen die Orthodoxie in Wittenberg. Später gehörten beide zu Preußen, in dem ab 1817 eine unierte Kirche bestand. Leipzig dagegen hat den Kontakt gepflegt. Die Stadt hatte ein gefestigtes lutherisches Milieu, stabilisiert durch die lutherische sächsische Landeskirche. Die konfessionelle Eindeutigkeit der Beziehung von Wittenberg und Leipzig hält bis heute an.
Zum Buch:
Peer Pasternack: Lose gekoppelt. Die Universität Halle-Wittenberg und die Stadt Wittenberg seit 1817: eine Beziehungsgeschichte. Halle 2024, 332 Seiten, 32 Euro, ISBN: 978-3-96311-874-6