„Innovation kommt aus der Grundlagenforschung“
Im Mai stellte das schweizerische Pharmaunternehmen Roche einen neuen COVID-19-Test vor. Laut dem Unternehmen soll er Antikörper gegen SARS-CoV-2 sehr spezifisch erkennen. Ohne Grundlagenforschung an Universitäten wäre das nicht möglich gewesen. Denn für die Produktion des Tests wird ein bestimmtes Eiweißmolekül benötigt, das auch Prof. Dr. Jochen Balbach vom Institut für Physik an der Uni Halle erforscht. Es spielt in Bakterien zum Erhalt von Proteinfunktionen eine wichtige Rolle.
Während die DNA so etwas wie die Bauanleitung für eine Zelle ist, sind Proteine Bauarbeiter, Werkzeuge und Baumaterial in einem. Sie erfüllen einen Großteil der Zellfunktionen. Doch auch wenn Forscher immer tiefer in ihre Funktionsweise vordringen, ist einiges noch nicht komplett verstanden. Beispielsweise, wie Proteine es schaffen, die richtige Form zu bekommen. „Proteine bestehen erstmal nur aus einer langen Kette von Aminosäuren“, erklärt Balbach. Er erforscht, wie diese zunächst funktionslose lange Kette in eine Form gefaltet wird, die eine biologische Funktion hat. „Bis heute hat man diesen sogenannten Faltungscode nicht wirklich entschlüsseln können“, so der Forscher.
Seit Jahrzehnten ist jedoch eine bestimmte Klasse von Molekülen bekannt, die bei der Proteinfaltung helfen: molekulare Chaperone. Ein sehr passender Name: Das Wort Chaperon kommt aus dem Englischen und steht für Anstandsdame oder Aufsichtsperson. In der Zelle sorgen diese Moleküle dafür, dass Proteine bei der Faltung keine Dummheiten machen. Ein ganz bestimmtes dieser Chaperone erforscht Balbach bereits seit den 1990ern, als er an der Universität Bayreuth an seiner Habilitation schrieb: SlyD. „Wir haben uns damals ganz generell für den Mechanismus interessiert, wie es seine Zielproteine erkennt und wie die Hilfe bei der Faltung vonstattengeht“, sagt Balbach. Das Chaperon SlyD ist sehr universell und hilft einer Vielzahl von Proteinen, die richtige, biologisch aktive Form zu bekommen. „Zu dem Zeitpunkt hatten wir die Anwendung noch gar nicht im Blick, das war rein akademisches Interesse.“
Er und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Bayreuth isolierten das Chaperon zunächst aus verschiedenen Bakterien und testeten, wie gut es funktioniert. „Mit diesen Erkenntnissen füllt man erstmal nur eine Datenbank und publiziert die Ergebnisse in einer Fachzeitschrift“, so Balbach. Sie untersuchten außerdem die molekulare Struktur, um so der Funktion auf die Spur zu kommen.
Balbach ging schließlich nach Halle, die Forschung an dem Chaperon führt er hier weiter. Seine Arbeitsgruppe entschlüsselte beispielsweise die 3D-Struktur des Chaperons. Einer seiner Kollegen aus Bayreuth hingegen, Dr. Christian Scholz, wechselte zu Roche und entwickelt dort serologische Tests. Und ihm fiel das Molekül SlyD wieder ein, als er neue Tests für Hepatitis und HIV auf der Basis von Antigenen entwickeln wollte. Antigene sind häufig kleine Proteine, bestehen also ebenso aus Aminosäuren und binden spezifisch an vom Körper gebildete Antikörper. So lässt sich in Blutproben nachweisen, ob jemand bereits Kontakt mit einem bestimmten Virus hatte. Die Antigene, die Scholz für seine Tests benötigte, falteten sich jedoch häufig falsch. Scholz hatte schließlich die Idee, das Chaperon SlyD auszuprobieren, was die fehlerfreie Produktion der Antigene möglich machte. Nun hat er nach demselben Prinzip auch den neuen Test auf SARS-CoV-2 entwickelt.
„Das ist eher selten, dass man seine Forschung in der Anwendung sehen kann“, sagt Balbach. „Es ist schön zu sehen, dass ein Protein aus der Grundlagenforschung einen wichtigen Beitrag leisten kann.“ Das zeige auch, wie wichtig die Forschung an Universitäten sei, bei der es zunächst nur darum geht, grundlegende Mechanismen besser zu verstehen. „Innovation kommt aus der Grundlagenforschung“, sagt Balbach. Die Industrie arbeite in klassischen Bahnen, da sie Gewinn erwirtschaften will. Grundlagenforschung ermögliche hingegen große Kreativität. Er sehe darin auch die originäre Aufgabe der Universitäten. „Vieles, was wir machen, ist aber auch biologisch beziehungsweise medizinisch relevant“, sagt Balbach. Je besser das Verständnis für Proteine, desto besser können beispielsweise Krankheiten behandelt werden. Sein Antrieb ist jedoch ein anderer: „Als Strukturbiologe interessiert mich einfach, wie Proteine funktionieren.“