Große Namen: Hermann Staudinger
Das Wesen manches Nobelpreisträgers besteht zu einem gewissen Teil darin, auch gegen Widerstände fest an die eigene Arbeit zu glauben. Der Wissenschaftler Hermann Staudinger ist ein Beispiel dafür. 1953 erhielt er für seine Entwicklungen auf dem Gebiet der makromolekularen Chemie den Nobelpreis für Chemie. Zuvor vergingen viele Jahre, bis sich seine bahnbrechende Theorie durchzusetzen vermochte. Jahre, in denen er trotz allem unbeirrt für seine Arbeit eintrat.
Bereits 1920 beschrieb er erstmals eine neue Stoffklasse mit völlig neuen Eigenschaften. Er zeigte, wie sich kleine Moleküle, so genannte Monomere, zu größeren Molekülen, den so genannten Polymeren verbinden können. Auch in den Folgejahren befasste Staudinger sich intensiv mit diesen so genannten Makromolekülen. Ein Begriff, den er zuvor selbst geprägt hat und 1922 erstmals öffentlich gebrauchte. Seine Erkenntnisse bereiteten der späteren Kunststoffchemie den Boden. Ihre Anwendungen finden sich heute in nahezu allen Lebensbereichen. Synthetische Kunststoffe wie das durch die Feinstrumpfhosen bekannte Nylon oder auch das PVC in Fußbodenbelägen hatten sich frühzeitig durchgesetzt und wurden zur Massenware, die jeder kennt.
Was viele indes nicht wissen: Staudinger erhielt seine wissenschaftlichen Grundlagen einst an der Alma mater halensis.
Interesse für Botanik
1899 kam er zum ersten Mal an die Vereinigte Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg. Sein Name findet sich in den überdimensionalen, in Leder gebundenen Matrikelbüchern, die noch heute im Universitätsarchiv lagern. Staudinger trug sich am 17. Oktober 1899 handschriftlich für das Herbstsemester ein. Laut Unterlagen bezog der zu jener Zeit 18-jährige Sohn des Gymnasiallehrers Franz Staudinger und seiner Frau Auguste eine Bleibe in der Bernburger Straße 28a. Zuvor hatte er auf Wunsch des Vaters eine Tischlerlehre absolviert. Eigentlich wollte er Botaniker werden, wovon auch diverse Einträge in seinem Studienbuch zeugen.
Nach einem kurzen Exkurs an die Technische Hochschule Darmstadt und an die Universität München kam Staudinger erneut nach Halle. Für das Jahr 1902 findet sich sein Name wieder in den Matrikellisten. Diesmal zog er in die Laurentiusstraße. Sein Ziel: die Promotion. Der Titel seiner Arbeit lautete „Anlagerung des Malonesters an ungesättigte Verbindungen.“ Doktorvater war kein Geringerer als Prof. Dr. Daniel Vorländer, der damals Abteilungsvorsteher am Chemischen Institut der Universität war und dort zu Flüssigkristallen arbeitete.
Auch Staudingers Prüfungsunterlagen sind noch heute einsehbar. Darin ist zu lesen, dass er sich am 27. Februar 1903 an der Philosophischen Fakultät der Promotionsprüfung unterzog. In Rigorosum, so steht es im Protokoll, wurde er zu zwei großen Themenbereichen befragt, Chemie und Botanik. Und auch damals schon waren seine Ergebnisse überdurchschnittlich. Prof. Dr. Alois Riehl - neben Dekan Prof. Dr. Wilhelm Dittenberger und dem Geheimen Regierungsrat Prof. Dr. Jacob Volhard einer der anwesenden Hochschullehrer - notierte ins Protokoll, er habe dem Kandidaten „schwierige Fragen“ vorgelegt. Dennoch verfüge der überall über sehr gutes Wissen. Die Arbeit wurde mit der Note „Magna cum laude“ verteidigt.
Im Anschluss ging Staudinger als Assistent an die Universität Straßburg. 1907 folgte er einem Ruf nach Karlsruhe, 1912 wechselte er an die ETH Zürich und wurde 1926 schließlich Professor an der Universität Freiburg. Auch dort hatte er es anfangs schwer, sich mit seiner neuen Theorie zu den Makromolekülen Gehör zu verschaffen. Sie wurde noch immer von vielen Fachkollegen bezweifelt. Erst in den 1930er Jahren bestätigten zwei Chemiker der IG Farben in Ludwigshafen seine Arbeit. Zuvor hatten Kurt Meyer und Herrmann F. Mark im Labor die Existenz langer Molekülketten mit Röntgenstrahlen nachweisen können. Ihrer experimentellen Bestätigung war jedoch ein langer Streit vorangegangen, in dem auch Meyer und Mark offensiv gegen Staudinger aufgetreten waren.
Staudingers Stärke, weiter an seine Theorie zu glauben, hatte womöglich auch etwas mit der Frau an seiner Seite zu tun. 1928 hatte er die Chemikerin und Botanikerin Magda Voits geheiratet, eine gebürtige Lettin, die fortan mit ihm gemeinsam die Makromoleküle und ihre chemischen Strukturen erforschte. Als ihr Mann später eine Zeitschrift für Makromolekulare Chemie gründete, wurde Magda Staudinger Mitglied im Redaktionsausschuss. Nach dem Tod ihres Mannes 1965 gab sie dessen gesammelte Werke heraus. Ihr Einfluss auf seine Arbeit muss groß gewesen sein. Davon zeugt auch, dass er sie explizit erwähnte, als er 1953 den Nobelpreis erhielt: In seiner Rede sprach er den Mitgliedern der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften und der Nobel-Stiftung seinen „tiefempfundenen, wärmsten Dank aus. Dies tue ich nicht nur in meinem Namen, sondern auch im Namen meiner Frau, der langjährigen Mitarbeiterin auf diesem Gebiet.“
Fachwelt blickt auf Jubiläum
Politisch ist das Wirken Staudingers in den vergangenen Jahren in den Fokus gerückt: In Freiburg hat sich eine Historikerkommission ab 2013 im Zuge einer Diskussion um Straßenumbenennungen auch mit seiner ambivalenten Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus befasst.
Wissenschaftlich sind die Verdienste des Chemikers freilich unumstritten. Inzwischen blickt die Fachwelt auch aufgrund von Staudingers Arbeiten mit Veranstaltungen oder Jubiläumsartikeln auf „100 Jahre Polymere“ zurück. Die Gesellschaft Deutscher Chemiker vergibt seit 1971 den Hermann-Staudinger-Preis an herausragende Polymerforscher. An der Uni Halle, wo die Karriere des Wissenschaftlers begann, hat sich ein entsprechender Forschungszweig etabliert: Seit 2011 existiert hier der Sonderforschungsbereich SFB/Transregio 102 „Polymere unter Zwangsbedingungen“.
Große Namen
Die Geschichte der Universität ist mit vielen bekannten Namen oder großen Ideen verbunden. Nicht immer hat jeder sofort die Fakten parat, die sich dahinter verbergen. Das soll sich an dieser Stelle ändern: Die Rubrik "Große Namen" erinnert an herausragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Halle.