Umgang mit sexualisierter Gewalt – „Die EKD hat einen Lernprozess durchgemacht“

30.04.2024 von Matthias Münch in Wissenschaft
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat sich ihrer Verantwortung für systematische sexualisierte Gewalt spät gestellt und die Betroffenen an der Aufarbeitung nur zögerlich beteiligt. Zu diesem Schluss kommt ein Forschungsnetzwerk im Auftrag der EKD, an dem MLU-Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Daniel Wrana beteiligt war. Im Interview mit „campus halensis“ spricht er über die Anerkennung von Schuld und verpasste Chancen.
Der Sitz der EKD in Hannover
Der Sitz der EKD in Hannover (Foto: Wikipedia / Axel Hindemith)

Herr Professor Wrana, Missbrauchsfälle in der evangelischen Kirche sind in der öffentlichen Wahrnehmung weniger präsent. Von welchen Dimensionen sprechen wir?
Die Dimension zu ermessen, ist schwierig, weil bis heute nicht alle Fälle publik geworden sind. Fest steht, dass es nicht nur in Einrichtungen der katholischen, sondern auch der evangelischen Kirche systematisch sexuelle Übergriffe auf Schutzbefohlene gegeben hat. Die Teilprojekte der ForuM-Studie, die Ende Januar veröffentlicht wurde, sprechen auch bei den neuen Zahlen von der Spitze der Spitze des Eisbergs. Aber während die Reformpädagogik und die katholische Kirche spätestens 2010 in den Fokus und die Kritik der Öffentlichkeit gerieten, hat die evangelische Kirche lange Zeit den Eindruck erweckt, es handele sich um Einzelfälle, wenige verirrte Täter und etwas, mit dem die evangelische Kirche eigentlich nicht wirklich etwas zu tun hat.

Daniel Wrana
Daniel Wrana (Foto: Maike Glöckner)

Können Sie das näher erläutern?
Wir wissen heute, dass es in der südhessischen Odenwaldschule, die in freier Trägerschaft geführt wurde, zwischen den 1960er und 1980er Jahren durch den Schulleiter, durch Mitarbeitende und Mitschüler sexualisierte Gewalt an hunderten Kindern und Jugendlichen gegeben hat. 1999 hat die Frankfurter Rundschau erstmals darüber berichtet, aber in der Öffentlichkeit fanden die ungeheuerlichen Vorkommnisse wenig Resonanz. Im Gegenteil – das reformpädagogische Konzept der Schule wurde verteidigt und die Betroffenen zum Teil diskreditiert. Erst 2010, als die Zeitung mit einem aktualisierten Bericht nachlegte, änderte sich das. Zur selben Zeit wurde sexualisierte Gewalt an zahlreichen Schülern im Berliner Canisius-Kolleg, das zur katholischen Kirche gehört, öffentlich diskutiert. Auch die evangelische Kirche hatte 2010 den sogenannten Ahrensburger Skandal, ein Missbrauchsfall in einem Pfarrhaus, und seither wurden immer weitere bekannt.

Sie haben an dem 2021 gestarteten Forschungsprojekt „ForuM“ mitgewirkt, das sexualisierte Gewalt in evangelischen Einrichtungen wissenschaftlich untersucht hat. Was war Ihre Aufgabe dabei?
Wir haben uns auf die Frage konzentriert, wie das Thema von der evangelischen Kirche selbst aufgegriffen und kommuniziert wurde. Für diese Diskursanalyse haben wir sämtliche Veröffentlichungen der Kirche zwischen 2010 und 2022 ausgewertet: Berichte, Benachrichtigungen und öffentliche Reden auf der Internetseite der EKD, Debatten und Beschlüsse der Synoden, Pressemitteilungen sowie Statements führender Vertreterinnen und Vertreter der Kirche in den deutschen Leitmedien. Interessiert hat uns vor allem, wie die Kirche auf die gewachsene öffentliche Aufmerksamkeit reagiert hat und ob im Zeitverlauf veränderte Sichtweisen und Kommunikationsstrategien zu beobachten waren.

Was haben Sie dabei festgestellt?
Grundsätzlich können wir zwei Punkte identifizieren, die aus dem Untersuchungszeitraum herausstechen: Zum einen das Jahr 2010 mit der Berichterstattung über die sogenannten „Runden Tische“ der Politik zu „sexuellem Mißbrauch“ und zu „Heimerziehung“, die nach dem öffentlichen Druck im Anschluss an das Bekanntwerden der Fälle v.a. in der Odenwaldschule und nach Bundestagspetitionen der Betroffenenverbände eingerichtet worden sind. Zum zweiten das Jahr 2018, in dem die EKD auf ihrer Versammlung, der Synode, einen umfangreichen Maßnahmenkatalog zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt eingesetzt hat. Schon das jeweilige Verhältnis zwischen öffentlicher Berichterstattung und Kommunikation durch die Kirche ist hier sehr interessant: Während die EKD 2010 auf 55 Presseartikel mit nur neun Stellungnahmen reagiert hat, war das Verhältnis 2018 mit jeweils 32 Pressebeiträgen und Reaktionen ausgeglichen. Das zeigt, dass sich in der Kommunikationsstruktur der Kirche einiges verändert hat.

Ist diese Veränderung auch inhaltlich erkennbar?
Auf jeden Fall. Beispielsweise hat sich die Kirche lange Zeit geweigert, eine spezifische Betroffenheit durch sexualisierte Gewalt anzuerkennen. Aus der hohen moralischen Überzeugung ihrer Integrität heraus hat sie die bekannt gewordenen Missbrauchsfälle den früheren gesellschaftlichen Zuständen zugeschrieben und ihre Verantwortung damit externalisiert. Dass es eine institutionelle Begünstigung von Übergriffen innerhalb der Kirche geben könne, wurde nicht thematisiert. Im Gegenteil: In der Zeit vor 2018 beklagte die evangelische Kirche, die Ereignisse brächten die guten reformpädagogischen Konzepte und die gelebte Nächstenliebe in Misskredit. Erst später spricht sie von einer fehlgeleiteten Kultur der Nähe und räumt ein, ihrem Anspruch, Menschen einen Schutzraum zu bieten, nicht gerecht geworden zu sein. Gerade das Selbstbild der evangelischen Kirche, Seelsorge durch intensive persönliche Beziehungen zu leisten, wurde jetzt als institutionelle Schwachstelle erkannt.

Wie ist die Kirche mit den Opfern sexualisierter Gewalt umgegangen?
Das ist natürlich einer der zentralen Aspekte des Umgangs mit Verantwortung und Schuld. Allein der Begriff „Opfer“ steht in besonderer Weise für den Prozess der Aufarbeitung: Die Kirche sieht sich lange in der Rolle des Souveräns, der die Aufgabe hat, notleidenden Menschen zu helfen, selbst wenn die Not auf eigenes Unrecht zurückzuführen ist. Sie schreibt den Opfern zu, aufgrund ihrer Traumatisierung nur begrenzt sprechfähig zu sein, und positioniert sich zugleich als Akteurin, die dieses Sprechen ermöglicht oder übernimmt. Diese Rolle interpretiert sie sogar so weit, dass sie diskutiert, den Tätern und Täterinnen zu vergeben und sie in die evangelische Gemeinschaft zu reintegrieren. Dabei ist sie weder bemüht, die Formen sexualisierter Gewalt aufzuklären, noch den Betroffenen ein Mitspracherecht einzuräumen.

Wandelt sich diese Haltung im Laufe der Jahre?
Ja, das tut sie. Ab 2018 beginnt die EKD, Menschen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, nicht länger als „Opfer“, sondern als „Betroffene“ zu bezeichnen und zu begreifen. Allerdings fokussiert sie sich zunächst auf das Motiv des Zuhörens: Die Kirche ist in der Lage, sich zu verändern, indem sie zuhört und dadurch ihre Probleme erkennt und diese zu lösen lernt. Erst 2020, als ein Betroffenenbeirat gegründet wird, beginnt die Beteiligung der von Missbrauch Betroffenen, wenngleich der Aufarbeitungsprozess weiterhin in der Verantwortung der Kirchenleitung bleibt. Mit dem 2022 gegründeten Beteiligungsforum ist schließlich ein grundsätzlich neues Gremium entstanden: Es soll sicherstellen, dass die Betroffenen an jeder kirchenpolitischen Entscheidung zum Umgang mit sexualisierter Gewalt beteiligt werden.

Wie bewerten Sie den Stand des Diskurses – was kann, was sollte die EKD noch besser machen?
Die EKD hat einen Lernprozess durchgemacht, der sich nicht nur in einer veränderten Kommunikationsstrategie manifestiert, sondern in konkreten Formen der Schuldbewältigung und der Partizipation von Betroffenen. Das muss man anerkennen. Allerdings sind hierbei sicher nicht alle Chancen genutzt worden: In letzter Zeit ist wieder das Bemühen zu erkennen, die Deutungshoheit über den Diskurs zurückzugewinnen. Es ist fraglich, ob sich aus dieser Position heraus Aufarbeitung vollumfänglich betreiben lässt. Zugleich bleibt nach unserer Analyse der Eindruck bestehen, dass die Kirche konkrete Schritte der Aufarbeitung, das Eingeständnis eigener Probleme und die Einführung von Maßnahmen erst spät in Angriff nimmt – und häufig erst, nachdem diese Schritte von Dritten wiederholt und nachdrücklich eingefordert werden.

Der Forschungsverbund

Ende 2020 nahm der Forschungsverbund „ForuM – Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“ mit einer breit angelegten unabhängigen Studie seine Arbeit auf. Dem Verbund gehörten Forschende aus den wissenschaftlichen Disziplinen Soziale Arbeit, Geschichtswissenschaft, Erziehungswissenschaft, Psychologie, Soziologie, forensische Psychiatrie, Sexualwissenschaft und Kriminologie an. In sechs Teilprojekten untersuchten sie, welche systemischen Faktoren sexualisierte Gewalt ermöglichen, welcher Gefährdung Betroffene ausgeliefert waren, wie mit Hinweisen und Meldungen umgegangen wurde und welche Schlüsse für die weitere Aufarbeitung, für die Prävention und für Schutzkonzepte gezogen werden. Finanziert wurde die Studie, deren Ergebnisse Ende Januar 2024 veröffentlicht wurden, von der Evangelische Kirche in Deutschland und ihren 20 Landeskirchen.

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