Ein Schrittmacher für die Allgemeinmedizin
In der Arztpraxis seiner Mentorin wird Johannes Thon oft schon als „Herr Doktor“ angesprochen. Für viele seiner Patienten macht es keinen Unterschied, ob der Medizinstudent seine letzte Prüfung schon abgelegt hat oder nicht. Thon absolviert das letzte Drittel seines Praktischen Jahrs bei der Allgemeinmedizinerin Dr. Caterina Klinkhart in Eckartsberga. Ab morgens um sieben empfängt er die Patienten der Akutsprechstunde in einem eigenen Sprechzimmer. Er hört ihnen aufmerksam zu, fragt nach ihren Vorerkrankungen, eingenommenen Medikamenten, dem Lebensstil und führt – je nach Beschwerden – eine Untersuchung durch, um sich so ein Bild vom Gesundheitszustand seines Gegenübers zu verschaffen. Anschließend kommt die Hausärztin hinzu und hört sich seine Behandlungsempfehlung an.
Von Anfang an steht den Studierenden der „Klasse Allgemeinmedizin“ ein Hausarzt als persönlicher Mentor zur Seite. Jedes Semester verbringen die Mentees zwei Tage bei ihren Mentoren in der Praxis. Thon wurde Caterina Klinkhart zugelost, deren Praxis in Eckartsberga im Süden Sachsen-Anhalts liegt. „Ein absoluter Glücksgriff“, sagt der Student, der inzwischen in das nahegelegene Weimar gezogen ist. In Thüringen will er 2018 seine Facharztausbildung zum Allgemeinmediziner beginnen.
Ursprünglich hatte sich der ausgebildete Rettungsassistent für das Fachgebiet Innere Medizin interessiert. Aber dann habe ein Professor in einer Vorlesung so engagiert von der Klasse Allgemeinmedizin gesprochen – „das hat mich überzeugt“, erzählt der 30-Jährige. Als einer von 20 Teilnehmern startete er 2011 in dem bundesweit einzigartigen Programm. Sechs Jahre später gehört Johannes Thon zu den ersten Studierenden der Klasse, die ihr Studium der Humanmedizin abschließen können. Bereut hat er seine Entscheidung nie – im Gegenteil: „Unseren Dozenten hat man die Begeisterung für ihren Beruf wirklich angemerkt. Man sieht, dass sie mit ihrer Arbeit als Hausarzt sehr zufrieden sind und sie haben uns auch vermittelt, warum – also was das Besondere daran ist.“ Das Besondere sei vor allem die auf Dauer angelegte Arzt-Patienten-Beziehung: „Man erhält eine ganz andere Einsicht in das Leben seiner Patienten und entwickelt auch eine intensivere Bindung zu ihnen als ein Arzt im Krankenhaus“, so der Student.
Der Hausarzt als Lotse und Vertrauter
Prof. Dr. Thomas Frese, Direktor des neugegründeten Instituts für Allgemeinmedizin, bestätigt das: „Patienten, die ich einst im jugendlichen Alter kennengelernt habe, bringen später ihre Kinder in die Praxis mit. Man wird gemeinsam älter und damit ist häufig auch eine ausgeprägte Wertschätzung verbunden.“ Hausärzte sind enge Vertraute und Lotsen zugleich. Die langjährige Patientenbindung ist für ihre Arbeit von entscheidender Bedeutung. Denn je besser der Arzt seine Patienten mitsamt ihrer Vorgeschichte kennt, desto besser lassen sich auch gefährliche Krankheitsverläufe frühzeitig erkennen. „Als Allgemeinarzt hat man das Gesamtbild des Patienten vor sich: Die physische, psychische und die soziale Komponente. Von diesem individuellen Bild hängt ab, welche Behandlungsempfehlung ich abgebe“, erklärt Johannes Thon.
Wie ein Arzt seinen Patienten gegenüber stets den passenden Ton trifft und die richtigen Fragen stellt, das haben er und seine Kommilitonen in den Seminaren der Klasse Allgemeinmedizin gelernt. „Jeder Patient ist anders – und mit jedem muss der Arzt eine gemeinsame Sprache finden. Deshalb ist es ganz wichtig, dass die Studierenden lernen, sich schnell in ihre Patienten hineinzuversetzen“, sagt Caterina Klinkhart. Neben den vorklinischen und klinischen Ausbildungsinhalten, die allen Medizinstudierenden vermittelt werden, besuchen die Teilnehmer der Klasse deshalb zusätzliche Kommunikations- und Fertigkeitentrainings. Seit Oktober 2017 steht ihnen dafür im Dorothea-Erxleben-Lernzentrum Halle eine neu eingerichtete Übungspraxis mit drei Behandlungszimmern zur Verfügung. Sie ist mit Untersuchungsgeräten und der Software einer Hausarztpraxis ausgestattet. „Wir wollen mit Hilfe von Schauspielern anhand von Beispielen vermitteln, was in einer Hausarztpraxis vor sich geht“, so Frese. Mit Kameras werden die simulierten Patientengespräche aufgezeichnet und anschließend mit den Dozenten ausgewertet.
Die Bewährungsprobe folgt dann in der Praxis der Mentoren. Hier hat auch Johannes Thon seine ersten Patientengespräche und -untersuchungen durchgeführt. „Im Umgang mit den Patienten werden die Studierenden mit der Zeit dann immer sicherer und selbstständiger“, berichtet Klinkhart, die mittlerweile drei Studierende der Klasse betreut. Gemeinsam mit Johannes Thon macht sie nach den Sprechstunden am Morgen auch Hausbesuche. „Wir diskutieren dann – ohne Patienten – schonmal länger über ein Krankheitsbild. Die Studenten bringen oft auch ihre eigenen guten Ideen ein“, erzählt die Mentorin, die den Austausch mit den angehenden Ärzten schätzt. „Das Schönste, was eine Studentin einmal zu mir gesagt hat, war: Ich wusste gar nicht, dass die Arbeit als Hausarzt so spannend ist.
Neues Kompetenzzentrum eröffnet
Nicht jeder hat ein positives Bild vom Hausarzt. „Es gab lange den Glauben: Wer keine Spezialisierung schafft, wird eben Allgemeinmediziner“, sagt Thomas Frese. „Ich glaube aber, dass wir es weiter schaffen werden, dieses Bild zu korrigieren. Die Allgemeinmedizin ist ein sehr komplexes, spannendes Fachgebiet und erfordert ein ungemein breites Fachwissen, dass Sie – ebenso wie in anderen Fachgebieten – in fünfjähriger Weiterbildung nach dem Studium erlernen.“ Gemeinsam mit engagierten Allgemeinärzten aus der Region will die Medizinische Fakultät mit ihrem speziellen Ausbildungskonzept ein praxisnahes Bild von Allgemeinmedizin vermitteln und damit auch dem akuten Hausarztmangel in der Region gezielt entgegenwirken. „Der Ansatz ist, mit der Klasse das Thema Allgemeinmedizin kontinuierlich und dank unserer Lehrärzte auch sehr praxisbezogen in das Studium einzubringen“, sagt Thomas Frese. Die Klasse sei seit 2011 „ein Schrittmacherprojekt“, wie Frese es nennt. „Sie gehört zu den frühesten Projekten dieser Art.“ Mittlerweile haben andere Hochschulen eine Reihe von ähnlichen Angeboten geschaffen.
Im März 2017 haben Bund und Länder im „Masterplan Medizinstudium 2020“ die Aufwertung der Allgemeinmedizin im Studium bundesweit zur Aufgabe der Hochschulen erklärt. Am UKH sind mit der „Klasse Allgemeinmedizin“ und der Überführung der Sektion Allgemeinmedizin in ein eigenes Institut die ersten Schritte bereits getan worden. „Im Grunde ist es eine Gleichstellung gegenüber den anderen Fachgebieten“, sagt Institutsdirektor Frese. „Unsere Mitarbeiter können sich jetzt voll und ganz auf Lehre und Forschung konzentrieren, wir haben ein regulär besetztes Sekretariat. Das hat unsere Arbeitsfähigkeit enorm verbessert.“
In einem nächsten Schritt wurde am Universitätsklinikum im September zudem das Kompetenzzentrum für Allgemeinmedizin eröffnet. „Dieses Zentrum wird sich der Weiterbildung approbierter Ärzte widmen und sie dabei stärker unterstützen. Allgemeinmediziner durchlaufen weit mehr Fachgebiete als ihre Kollegen anderer Fachrichtungen und sind dabei oft auf sich allein gestellt gewesen“, sagt der Professor.
Das Zentrum ist direkt an das Institut angebunden und wird bis zum Jahr 2022 vollständig durch die AOK Sachsen-Anhalt finanziert. „Es soll die Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin qualitativ und strukturell verbessern. Es ist quasi die Fortsetzung der Klasse Allgemeinmedizin nach dem Studienabschluss“, so Thomas Frese.
Kontakt: Prof. Dr. Thomas Frese
Institut für Allgemeinmedizin
Telefon: +49 345 557-5338
E-Mail: thomas.frese@uk-halle.de