„Demokratien können nicht ohne Universitäten funktionieren“ - Streitgespräch in Wittenberg

03.11.2025 von Manuela Bank-Zillmann in Varia, Wissenschaft
„Die Universität als Ort politischer Kontroversen. Orientierungen für Debatten zu Antisemitismus und Rassismus“ - unter diesem Titel fand am Reformationstag die 31. wissenschaftliche Disputation der Universität in Wittenberg statt. Die Gäste erlebten eine eindrucksvolle Diskussion – wenn auch ohne große Kontroversen. Zuvor zog der Akademische Senat in den historischen Talaren traditionell vom Rathaus zur Leucorea, dem Ort der Disputation.
Auf dem Podium der diesjährigen Disputation saßen Meron Mendel, Ottfried Fraisse, Olaf Zenker und Moderatorin Susanne Voigt-Zimmermann (von links).
Auf dem Podium der diesjährigen Disputation saßen Meron Mendel, Ottfried Fraisse, Olaf Zenker und Moderatorin Susanne Voigt-Zimmermann (von links). (Foto: Maike Glöckner)

Das Thema des wissenschaftlichen Streitgesprächs hätte aktueller nicht sein können und schloss an die Disputation vom Vorjahr an, in der diskutiert worden war, wie politisch eine Universität sein dürfe. Diesmal ging es nun vor dem Hintergrund wachsender gesellschaftlicher Polarisierungen darum, wie sich Universitäten den respektvollen wissenschaftlichen Diskurs bewahren und welche Regeln dazu beitragen können. 

Sechs Thesen dazu hatte Prof. Dr. Meron Mendel, Leiter der Anne-Frank-Bildungsstätte und Professor an der Frankfurt University of Applied Sciences, aufgestellt. Mit ihm diskutierten Prof. Dr. Ottfried Fraisse vom Seminar für Judaistik an der MLU und Prof. Dr. Olaf Zenker, Professor für Ethnologie an der MLU. Es moderierte Prof. Dr. Susanne Voigt-Zimmermann, Professorin für Sprechwissenschaft an der MLU und Dekanin der Philosophischen Fakultät II. 

Zuvor jedoch ordnete Rektorin Prof. Dr. Claudia Becker in ihrem Grußwort das Thema aus Sicht der Hochschulleitung ein. „Unweigerlich ist die universitäre Gesellschaft immer auch ein Abbild der Gesamtgesellschaft. Damit finden die Kontroversen, die sich in der Gesellschaft abspielen, auch an der Universität statt. Ein wesentlicher Unterschied sollte dabei sein, dass an Universitäten stärker als in der Gesellschaft die Wissenschaft beziehungsweise Wissenschaftlichkeit eine Rolle in den Debatten spielt“, so die Rektorin. Das betreffe die Setzung von Themen, die Auswahl von Referentinnen und Referenten und die Sicherung von wissenschaftlichen Standards. „Der Rückzug auf das Argument der Wissenschaftsfreiheit alleine verkennt dabei, dass Freiheit immer auch mit Verantwortung einhergeht.“ 

Nach weiteren Grußworten des Oberbürgermeisters von Wittenberg Torsten Zugehör und des Vorsitzenden der Leucorea Prof. Dr. Jörg Dierken stellte dann Meron Mendel seine Thesen vor und ordnete sie in einen größeren gesellschaftlichen Kontext ein. „Demokratien können nicht ohne Universitäten funktionieren. Universitäten funktionieren aber ohne Demokratie“, sagte er mit dem Verweis auch auf die deutsche Geschichte. Es seien auch heute wieder herausfordernde Zeiten, blicke man auf allein auf die Entwicklungen in den USA. Seine Thesen seien also nicht im luftleeren Raum entstanden. 

„Die Universität ist kein Safe Space“ stellte er gleichwohl fest, die Debatten seien zu führen, auch über den Israel-Palästina-Konflikt und den „entgrenzten Krieg, den die israelische Armee in Gaza führt“. Aber es könne nicht dabei bleiben, dass jeder seine eigenen Lehren daraus ziehe, so wie es ihm oder ihr passe. „Eine Debatte kann man nicht mit Tabus gewinnen“, so Mendel. Aber es sei auch nicht alles erlaubt, es gebe Regeln. Die Universität sei ein Ort politischer Kontroversen, aber in einem rechtlich und institutionell umrissenen Rahmen (These 1). Er warnte vor politischem Druck (These 2) und einer „Zensur von unten“, in der vor allem Studierende etwa den Rassismusvorwurf als strategisches Mittel nutzten, Rednerinnen und Redner auszuladen (These 3). Eine offene Debatte über alle Themen sei notwendig, die Grenze sei immer der Rechtsverstoß (These 4). Ein Schutz der Betroffenen sei in der Debatte unerlässlich, aber dürfe nicht die Grundlage wissenschaftlicher und hochschulpolitischer Entscheidungen sein (These 5), schließlich sei die Universität kein Ort der ideologischen Abschottung (These 6).

Den Opponenten fiel es nicht leicht, kontroverse Gegenthesen aufzustellen. Den Anfang machte Ottfried Fraisse, der drei Einsprüche erhob. „Ja, Wissenschaftsfreiheit verlangt die regelbasierte Suche nach Wahrheit. Doch gelingt sie nur in einer Universität, die auch zur epistemischen Selbstkritik fähig und bereit ist.“ Die Universität sei selbst kein neutraler Ort. Universitäre Wissenschaft sei nie nur ein Verfahren der Erkenntnis, sondern Teil gesellschaftlicher Macht- und Wissensstrukturen, die bestimmen, was als wahr, relevant oder sagbar gilt. In dem Sinne bleibe die Universität auch in die Denkformen der Moderne verstrickt, die im Zivilisationsbruch der Schoah ihre Grenze erfahren haben. „Der Holocaust markiert nicht nur ein moralisches und politisches, sondern auch ein epistemisches Ereignis“, so Fraisse. Er stelle die Selbstverständlichkeit moderner Rationalität in Frage, auf die sich der wissenschaftliche Wahrheitsanspruch gründe. „Eine Universität, die Wissenschaftsfreiheit in Anspruch nimmt, muss sich dieser historischen Bedingtheit ihrer eigenen Erkenntnis bewusst sein.“ Daher, so sein zweiter Einwurf, lasse sich die Grenze zwischen Kritik und Diskriminierung nicht ausschließlich juristisch fassen, sondern erhalte ihre Konturen auch aus der deutschen Erinnerungskultur. „Jede Rede über Antisemitismus, Rassismus oder Israel steht in einem erinnerungspolitischen Rahmen, ob sie will oder nicht.“ Und schließlich: „Ja, die Universität kann kein argumentativer Schutzraum sein, aber sie sollte ungleiche Sprechvoraussetzungen im jüdisch-nichtjüdischen Diskurs mitreflektieren.“ In Deutschland werde innerhalb und außerhalb der Universität viel über Antisemitismus gesprochen, meist jedoch von Nichtjüdinnen und Nichtjuden im Namen von Jüdinnen und Juden. „Diese Sprechasymmetrie untergräbt die Voraussetzungen jüdischer Selbstbeschreibung.“

Olaf Zenker stellte bei seiner Gegenrede gleich zu Beginn fest, dass es ein undankbares Unterfangen sei, nach Mendel und Fraisse zu sprechen. Es werde wohl auch Unzufriedenheiten geben bei denen, die eine kontroverse Debatte gewünscht hatten. Er wolle jedoch kritische Einwände als eine Art Advocatus diaboli vorbringen, um eine Überprüfung von Positionen und Argumenten zu gewährleisten. So stellte er in seiner ersten These fest, dass auch hypothetisches Durchdenken und Abwägen von möglichen, auch kontroversen Positionen, die man selbst nicht teile, im Rahmen von kritischen Diskussionen an Universitäten möglich sein müsse. Zweitens, dass Universitäten selbstbewusst das Ideal eines wissenschaftlichen Ethos verteidigen, gerade weil dieses Ideal in der Praxis oft nicht ausreichend praktiziert werde. Und drittens, dass die Universität als Ort politischer Kontroversen eine entscheidende Doppelfunktion erfülle: als Ort des Redens über kontroverse Themen und als Ort des weiter miteinander im konfliktreichen Gespräch-Bleibens. Kurzum, so Zenker, „die Universität ist ein Ort der Sprechangebote und Sprechgebote, nicht der Sprechverbote“. 

Für die sich anschließende Gegenrede Mendels und Fragen aus dem Publikum, aus dem sich auch der anwesende Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff einbrachte, blieb in dieser thematisch dichten Disputation am Ende fast zu wenig Zeit. Auch das war wohl ein Zeichen, wie aktuell die Debatte ist – und bleibt.

Die sechs Thesen von Meron Mendel bei der Disputation
 

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