Zum Jubiläum: Disputation in Wittenberg zur Politisierung der Universität

04.11.2024 von Katrin Löwe in Varia, Wissenschaft
Wie politisch darf und sollte eine Universität sein? Unter diesem Titel stand am Reformationstag die traditionelle Disputation der Universität Halle in der Wittenberger Leucorea. Es war das mittlerweile 30. Streitgespräch dieser Art – das Jubiläum wurde mit einem Festband gewürdigt.

Wittenbergs Oberbürgermeister Torsten Zugehör bedankte sich am Abend für eine Disputation, die – im wahrsten Sinne des Wortes – ein Streitgespräch war. Was vielleicht schon am Thema lag, ein „kontrovers wahrgenommenes und damit streitwürdiges“, wie Rektorin Prof. Dr. Claudia Becker in ihrer Begrüßung betonte.

„Wie politisch darf und sollte eine Universität sein?“ So lautete die Frage des Tages, die nach dem Zug des Akademischen Senats vom Rathaus zur Leucorea gestellt wurde. Ein Jurist würde darauf zunächst mit einem „Es kommt darauf an“ reagieren, so Moderator Prof. Dr. Winfried Kluth, selbst Rechtswissenschaftler. „Ich freue mich, dass wir drei Personen gefunden haben, die uns zeigen, worauf es ankommt“, sagte er. Das waren zum einen Mathias Brodkorb, Journalist, Publizist und Minister a.D., als diesjähriger Thesengeber und zum anderen die Juristin Prof. Dr. Katja Nebe und der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Johannes Varwick, beide von der MLU.

Die Frage verlange zwei Antworten, stellte Brodkorb voran – eine im Bereich des Möglichen und eine im Bereich des Wünschbaren. Die mögliche sei einfach: Das Hochschulgesetz statuiere in Paragraph 59, dass Mitglieder und Angehörige von Hochschulen an der hochschulpolitischen Willensbildung teilnehmen. Eben nicht an der allgemeinpolitischen Willensbildung, wie er betonte. Anspruchsvoller werde die Antwort bei der Frage nach dem Wünschbaren, dem, was Universität tun sollte. Nach diversen Erläuterungen – von der Menschenrechtsphilosophie bis hin zum Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit im digitalen Zeitalter – wurde Brodkorb am Ende in einem Beispiel ganz praktisch: mit der Debatte um ein AfD-Verbot, wenn die Partei als erwiesen rechtsextrem eingestuft würde. Sollte der Senat der MLU sich für ein Verbotsverfahren aussprechen? „Ich kann nur davor warnen“, sagte Brodkorb. Der Senat könne bei der hochdiffizilen Rechtsfrage nicht einmal dann einen fachlich glaubwürdigen Beschluss fassen, wenn er nur aus Juristen bestünde. Das symbolische Kapital der Wissenschaft würde für eine politisch motivierte Intervention des Teilsystems Wissenschaft in das Teilsystem Politik missbraucht und Kompetenz bloß vorgespiegelt. „Für die politische Betätigung des Staatsbürgers hat unsere Gesellschaft aber die Parteien und Wahlen erfunden - und nicht die Universitäten.“ Wenn Rechts- oder Politikwissenschaftler fachlich begründet Stellung nehmen, sprächen sie als Wissenschaftler für sich selbst, nicht für die Institution Universität.

Brodkorb warnte vor einer Selbstpolitisierung der Wissenschaft – darin schlummere ihr Suizid. Ihm scheine nur eine Ausnahme denkbar: Wenn die demokratische Grundordnung akut bedroht sei, hätte die Universität aus seiner Sicht die Pflicht, politisch in Erscheinung zu treten – schon als Akt der Selbstverteidigung. Davon sei man aber noch meilenweit entfernt.

Johannes Varwick reagierte zunächst auf die Trennung Brodkorbs in das Teilsystem Wissenschaft und das Teilsystem Politik: Es gebe für ihn keine getrennten Sphären, hier die saubere Wissenschaft, dort die schmutzige Politik. Universität sei ein politischer Ort, weil alles politisch sein kann. Universität sei ein Raum, in dem über Themen verhandelt wird – dieser Raum müsse verteidigt werden. Als Institution und über Individuen müsse Universität zudem aktiv das Grundgesetz und die freiheitlich demokratische Grundordnung verteidigen – Brodkorb mache es sich zu einfach, wenn er sage, man sei von den Zuständen, in denen eine Gefährdung eintritt, noch weit entfernt.

Auch Juristin Katja Nebe widersprach dem Thesengeber. Sie warf nicht nur ein, dass Universität in der bisherigen Debatte offenbar nur als professoral betriebene Wissenschaft verstanden werde, obwohl Professorinnen und Professoren an ihr in der Minderheit sind. Nebe argumentierte auch mit dem Hochschulgesetz – in Paragraph 3 stehe etwa, die Hochschulen „leisten ihren Beitrag zu einer nachhaltigen, friedlichen und demokratischen Welt“ – und setzen sich mit den möglichen Folgen einer Verbreitung und Nutzung ihrer Forschungsergebnisse auseinander. So müsse man etwa entscheiden, ob man Forschung unterstütze für Hubschrauber zu militärischen Zwecken oder für Rettungshubschrauber. Die Universität „muss politisch sein“, so Nebe auch mit Verweis auf deren Bildungs- und Forschungsauftrag.

Brodkorb erwiderte auf die Kritik, dass sich die Systeme Wissenschaft und Politik nicht trennen lassen: Gerade, weil die Welt vielgestaltig sei, brauche es Kategorien, um die Wirklichkeit in den Griff zu bekommen. Dass man diskutieren müsse und es einen Bildungsauftrag gebe, sei völlig klar. Ihm gehe es um den Versuch, dass die Universität der Gesamtgesellschaft mit einem politischen Mandat gegenübertritt– der sei ausgeschlossen und damit hätten die Juristen Recht. Das Argument von Wechselwirkungen zwischen den Sphären sei eine „Ausrede davor, sich klar zu Prinzipien bekennen zu müssen“.

Der Debatte schloss sich auch das Publikum an. Universität und ihre Wissenschaftler seien abhängig von ganz vielen Dingen, die außerhalb ihrer Entscheidungskompetenz liegen, wandte Historiker Prof. Dr. Andreas Pecar ein – und nannte etwa die Finanzierung der Universität und weitere Rahmenbedingungen für gute Wissenschaft wie die Gewinnung ausländischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Die Institution Universität müsse den Mut der Individuen fördern, so Varwick am Ende. Das sei für ihn die wichtigste Dimension einer Politisierungsdebatte. Thesengeber Brodkorb gestand in seinem Schlusswort, noch „ein bisschen pieksen“ zu müssen: Er spüre Verlangen für politisches Engagement. Das sei wunderbar, der Ort dafür aber seien Kommunalvertretungen, Parteien, Demonstrationen …

Was die Disputation zweifellos geleistet hat: Anlass für weitere Gespräche zu bieten. Es sei wichtig, die Reflexion über die Rolle als Universität fortzuführen, schloss Moderator Winfried Kluth letztlich. Die Selbstreflexion der Universität gehörte auch zu dem breiten Themenspektrum, dem sich die Disputation seit ihrer ersten Auflage im Jahr 1993 gewidmet hat. Nachzulesen ist das in einem pünktlich zur 30. Auflage im Universitätsverlag erschienenen Buch „,Lasset die Geister aufeinanderplatzen!‘ – 30 Jahre Wittenberger Disputation.“ Die 240 Seiten lange Festschrift mit Titeln, Teilnehmern und Beiträgen zu den bisherigen Streitgesprächen werfe ein Licht auf die jeweiligen Zeitumstände, so Leucorea-Vorsitzender Prof. Dr. Jörg Dierken. Die Erinnerung daran möge Anstöße zum Nachdenken geben.

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