Die virtuelle Leichenschau

21.10.2015 von Tom Leonhardt in Studium und Lehre, Campus
Sie gehört bestimmt nicht zu den schönsten Aufgaben eines Arztes und kommt in der Ausbildung häufig etwas zu kurz. Trotzdem muss jeder Mediziner sie beherrschen. Die Rede ist von der Leichenschau. An der Uni Halle üben Medizin-Studierende digital an echten Fällen, Tote zu begutachten.
Wie fülle ich einen Totenschein richtig aus? Das lernen Studierende am Institut für Rechtsmedizin.
Wie fülle ich einen Totenschein richtig aus? Das lernen Studierende am Institut für Rechtsmedizin. (Foto: Michael Deutsch)

Egal ob bei Mord, Unfall oder plötzlichem Herzversagen: Eine Leichenschau ist in jedem Fall Pflicht. Dabei entscheiden Ärzte darüber, ob es sich um einen natürlichen Tod handelt oder nicht. Auch die Todesursache müssen Mediziner am Fundort der Leiche bestimmen und im Totenschein angeben. Das gehört in Deutschland nicht nur zu den Aufgaben ausgebildeter Rechtsmediziner. „Jeder Mediziner muss in der Lage sein, bei einer Leichenschau Todesart, -ursache und -zeit korrekt anzugeben“, erläutert Prof. Dr. Rüdiger Lessig vom Institut für Rechtsmedizin. Gemeinsam mit seinen Mitarbeitern bildet er Medizinstudierende unter anderem dazu aus, einwandfreie Todesbescheinigungen umgangssprachlich Totenschein genannt, auszustellen.

Prof. Dr. Rüdiger Lessig leitet das Institut für Rechtsmedizin
Prof. Dr. Rüdiger Lessig leitet das Institut für Rechtsmedizin (Foto: Norbert Kaltwaßer)

Und das sei nicht immer einfach: „Die zur Leichenschau bestellten Ärzte haben meist wenig bis gar keine Erfahrung und sind auch unsicher, wie sie sich zu verhalten haben“, berichtet der Rechtsmediziner. „Häufig liegt die letzte Leichenschau Jahre zurück, oder hat sogar nur im Studium stattgefunden.“ Dabei sei es wichtig, sowohl bei einer Leichenschau als auch beim Ausfüllen des Totenscheins keine Fehler zu machen – immerhin handelt es sich bei dem Schein um eine Urkunde. Wird sie falsch ausgefüllt, kann das juristische Folgen für den Arzt haben.

Gerade die Entscheidung, ob ein Mensch auf natürliche oder nicht-natürliche Weise ums Leben gekommen ist, fällt vielen Ärzten schwer. „In Deutschland werden nur etwa fünf Prozent aller Todesfälle als nicht natürlich eingestuft“, berichtet Rechtsmediziner Steffen Heide. In anderen Ländern sei diese Zahl deutlich höher. Im Zweifelsfall können Ärzte auch angeben, dass die Todesursache vor Ort nicht aufgeklärt werden kann. Auch dies geschehe, so Heide, nur relativ selten. Diese Fehler würden häufig erst bei einer zweiten Leichenschau auffallen, die die Rechtsmediziner durchführen. Das ist aber nur notwendig, wenn der Leichnam eingeäschert werden soll. Insofern ist von einer großen Dunkelziffer auszugehen.

Leichenschau im Krematorium

Deshalb steht bei den halleschen Medizin-Studierenden ein umfangreiches Modul zur Rechtsmedizin auf dem Lehrplan. Die Leichenschau wird dort schwerpunktmäßig behandelt.  Mit toten Menschen haben die angehenden Mediziner aber bereits vorher einige Erfahrungen gemacht: „Wir werden langsam an das Thema herangeführt“, berichtet Marco Sprung, Medizin-Student im neunten Semester. Bereits im zweiten und dritten Semester arbeiten Studierende an den Gehirnen oder Gewebeteilen von Menschen, die ihren Leichnam für Lehrzwecke zur Verfügung stellen. Dort kannten die Studenten in der Regel aber keine privaten Details zu den Personen. Das ist bei einer Leichenschau anders.

Damit sich die Studierenden an den Umgang mit den Toten gewöhnen, findet im Rahmen des Moduls  eine Leichenschau im Krematorium des Getraudenfriedhofs statt. In Kleingruppen begutachten die angehenden Mediziner einen Leichnam, vergleichen ihre Erkenntnisse mit denen, die im Totenschein stehen und geben den Verstorbenen danach für die Feuerbestattung frei. „Das war eine sehr ungewohnte Situation“, erinnert sich die Medizinstudentin Ulrike Nitschke. Plötzlich habe vor ihr eine wirkliche Person in einem Sarg gelegen, die sie entkleiden und untersuchen sollte. Daran musste sie sich erst einmal gewöhnen.

In solchen Situationen kommt es im Beruf darauf an, gelassen zu reagieren und eine gewisse Routine zu haben. Dafür hat Steffen Heide mit seinen Kollegen ein virtuelles Lernmodul mit zehn Übungsfällen entwickelt. Darin enthalten sind nur reale Fälle aus der Region um Halle, an denen die halleschen Rechtsmediziner selbst beteiligt waren. Jeder Fall wird anhand von detaillierten Texten und Fotos vom Fundort illustriert. Dazu gehören Informationen zum Fundort und zur Beschaffenheit des Leichnams.

Reale Fälle aus der Region

„Wir haben sehr verschiedene Fälle ausgesucht: einen plötzlichen Säuglingstod oder eine Fäulnisleiche, bei der nicht mehr problemlos die Identität der Person festgestellt werden kann“, sagt Heide. „Auch ein Tötungsdelikt ist dabei.“ Durch die vielen Beschreibungen und die Fotos würden die Fälle auch am PC sehr real wirken, sagt Ulrike Nitschke: „Das ist schon ein bisschen komisch und beunruhigend. Schließlich sind das alles echte Fälle aus der Region gewesen.“

Bevor es an die Arbeit am heimischen Computer geht, werden zwei Übungsfälle im Dorothea-Erxleben-Lernzentrum der Medizinischen Fakultät bearbeitet. Unter Anleitung üben die Studierenden die Bedienung des Programms und füllen auch zwei Totenscheine aus. Danach können sie selbst entscheiden, welche Fälle sie alleine bearbeiten wollen.

„Ein bisschen kritisch ist, dass man dort alle Informationen vorgefiltert bekommt“, gibt Marco Sprung zu bedenken. Etwa bei den Leichenflecken und deren Beschaffenheit – sie können sehr wichtige Hinweise darüber liefern, wie lange eine Person schon tot ist. Da die Flecken bereits aufgefunden und entsprechend ausgewertet sind, sei es am PC leichter, Indizien für den Todeszeitpunkt zu erhalten. Bei einer wirklichen Leichenschau müsste man diese selbst finden. Aber: „Das Drücken und Befühlen geht am Computer halt nicht.“

Dennoch fühlen sich Sprung und Nitschke durch die virtuellen Übungen besser auf ihre erste wirkliche Leichenschau vorbereitet: „Ich habe jetzt zumindest eine gewisse Routine im Ablauf, wie man eine Leichenschau angehen kann“, sagt Sprung. Die wichtigste Lehre aus dem Modul sei für beide Studenten: „Sich zu nichts überreden lassen! Nicht von anwesenden Polizisten oder auch Angehörigen. Nur weil etwas wie ein klarer Fall aussieht, muss er es noch lange nicht sein.“ Dem pflichtet auch Steffen Heide bei. Es sei nicht problematisch, auf dem Totenschein ein Kreuz bei „Todesart nicht aufgeklärt“ zu setzen.

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Medizin

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