Der richtige Riecher
Vor dem Institut für Pharmazie am Hohen Weg wachsen sechs Sorten Thymian in einem kleinen Beet. Der Ort könnte eigentlich kaum unwirtlicher sein: Tag für Tag scheint die Sonne auf die Pflanzen, Schatten gibt es fast gar nicht. Es ist trocken und das Beet liegt in einem Windkorridor. Aber: „Hier wachsen die Pflanzen lieber als im Gewächshaus“, sagt Prof. Dr. Jörg Degenhardt, der an der MLU die Arbeitsgruppe Pharmazeutische Biotechnologie leitet. Er reißt ein paar Blüten einer Thymianpflanze ab, zerreibt sie mit seinen Fingern und riecht daran. „Dieser Typ produziert den Duftstoff Linalool, ein Terpen mit einem zitronig-fruchtigen Aroma“, sagt er. Der Forscher erkennt alle sechs Pflanzentypen am Geruch: von fruchtig bis hin zu typisch medizinisch oder einer leichten Salbeinote. Im Frühsommer nehmen die Forschenden Proben von den blühenden Pflanzen und gefrieren sie in flüssigem Stickstoff, um später damit arbeiten zu können.
Ursprünglich stammen die Pflanzen aus der Region Montpellier in Südfrankreich. Vor über zehn Jahren wurden ein paar davon auf eine 1.300 Kilometer lange Reise nach Halle geschickt. „Die Genetik der Pflanzen fasziniert mich“, sagt der Biochemiker Degenhardt. Beim Thymian handele es sich um eine epistatische Reihe – das heißt: alle sechs am Institut angebauten Typen verfügen über das gleiche genetische Material und haben das gleiche Erscheinungsbild. Aber sie aktivieren ihre Gene unterschiedlich und dadurch verändert sich das Aroma der Pflanzen. Degenhardt will verstehen, wie diese genetische Regulierung abläuft.
Pflanzen setzen sich zur Wehr
Besonders interessiert ihn dabei die Produktion von sogenannten sekundären Pflanzenstoffen. Damit ist eine Gruppe von chemischen Verbindungen gemeint, welche die Pflanzen bilden, die aber anders als Kohlenhydrate, Eiweiße und Fette für sie nicht lebensnotwendig sind. Sie sind eine Art evolutionäres Upgrade, durch das die Pflanzen besser an ihre Umgebung angepasst sind, die sie bei widrigen Bedingungen nicht einfach verlassen können. Über den Sekundärstoffwechsel produzieren Pflanzen zum Beispiel Abwehrstoffe gegen Fressfeinde. Der Zitronen-Thymian produziert Linalool, mit dem die Pflanze sich gegen Schneckenbefall wehrt und der ihr das charakteristische fruchtige Aroma verleiht.
Degenhardts Arbeitsgruppe hat es speziell auf die Substanzen Thymol und Carvacrol abgesehen, die in den ätherischen Ölen von Thymian enthalten sind, aber auch in Oregano und anderen Lippenblütlergewächsen. Beide Stoffe sind für das charakteristische Aroma der Pflanzen verantwortlich. „Das vor allem aus Thymian gewonnene Thymol besitzt sekretlösende, antibakterielle und krampflösende Eigenschaften. Die Pflanze kommt daher besonders häufig in Erkältungstees, Hustensäften und pflanzlichen Arzneimitteln gegen Bronchitis zum Einsatz“, erklärt Degenhardt. Oregano enthält dagegen besonders viel Carvacrol, das über ähnliche Eigenschaften verfügt. Sein Geruch wird häufig mit Pizzasoße und anderen mediterranen Gerichten verbunden. Chemisch gesehen sind beides nah verwandte Substanzen.
Beide werden in einem mehrstufigen Prozess gebildet, den man sich wie eine Fertigungsstraße in einer Fabrik vorstellen kann. Degenhardt: „Jeder Arbeitsschritt ist aufeinander abgestimmt und nur in der richtigen Reihenfolge entsteht das gewünschte Produkt.“ Anstelle von Maschinen erledigen spezielle Biomoleküle – Enzyme – diese Arbeit in den Drüsenzellen auf der Blattoberfläche. Der Ausgangsstoff ist dabei immer der gleiche. Je nach Thymiantyp wird dieser dann so weiterverarbeitet, dass sekundäre Pflanzenstoffe in verschiedenen Mengen entstehen.
Altes Rätsel gelöst
Bereits 1978 schlugen die beiden US-Forscher Ayrookaram Poulose und Rodney Croteau einen molekularen Ablaufplan dafür vor. Der hatte jedoch einige Schwachstellen: „Man ging davon aus, dass die Substanz para-Cymol für die Synthese von Thymol und Carvacrol ein essenzielles Zwischenprodukt ist. Allerdings war es chemisch nicht nachvollziehbar, wie aus diesem Stoff letztlich beide Substanzen entstehen sollen“, so Degenhardt. Gemeinsam mit seinen Mitarbeiterinnen Dr. Sandra Krause und Dr. Franziska Leidecker und dem Team von Prof. Dr. Natalia Dudarevea von der Purdue University in den USA konnte er nun Licht ins Dunkel bringen. Und das war alles andere als einfach: Anders als bei der Modellpflanze Arabidopsis thaliana ist das Erbgut von Thymian nicht komplett entschlüsselt. Selbst die genaue Anzahl der darin enthaltenen Gene ist bis heute nicht ermittelt. „Man muss also direkt in die Pflanze rein, um die Prozesse zu verstehen“, so Degenhardt.
Mit Hilfe umfangreicher Analysen untersuchten die Forschenden zunächst, welche Gene während der Produktion der Stoffe aktiv und welche Enzyme daran beteiligt sind. Mit diesem Wissen war es möglich, die einzelnen Produktionsschritte im Labor nachzustellen. „Tatsächlich entsteht bei der regulären Produktion kaum para-Cymol“, sagt Degenhardt. Es sei eher eine Art Abfallprodukt, wenn die Reaktionen nicht wie geplant ablaufen. Und hier wird die Sache knifflig: Stattdessen entstehe, so der Forscher, ein äußerst instabiles Zwischenprodukt. Direkt beobachten lässt sich dieses nicht, es liefert aber den bislang fehlenden theoretischen Zwischenschritt in der Synthese von Thymol und Carvacrol.
Für beide läuft die Produktion demnach zunächst nach dem gleichen Muster ab, erst im vierten Schritt kommen unterschiedliche Enzyme zum Einsatz, die die jeweilige Substanz produzieren.
Erkenntnisse für Forschung und Praxis
Mit diesem Wissen gelang es den Forscherinnen und Forschern sogar, die Modellpflanze N. benthamiana genetisch so umzuprogrammieren, dass sie Thymol produziert. „Das geschah zwar nur in geringen Mengen, es bedeutet aber, dass wir die Synthesewege und die dazugehörigen Enzyme lückenlos aufklären konnten“, fasst Degenhardt zusammen. Ihre Erkenntnisse veröffentlichten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der renommierten Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences” (PNAS). Ein besonderes Detail: Einer der Editoren der Arbeit war Professor Rodney Croteau, der vor 44 Jahren die ursprüngliche Theorie aufgestellt hatte.
Die Erkenntnisse sind für viele Bereiche von Interesse, wie Degenhardt erläutert: „Wir wissen nur wenig darüber, wie die Arzneipflanzen jeweils die Produktion und Zusammensetzungen ihrer sekundären Pflanzenstoffe regulieren." Die Hoffnung: Sind die Details verstanden, wie Sekundärstoffe im Thymian gebildet werden, lassen sich die Erkenntnisse als Blaupause auch auf andere Pflanzen übertragen und deren Züchtung lässt sich optimieren.
Thymol und Carvacrol können in den Pflanzen noch zu Thymohydrochinon weiterverarbeitet werden. Dieses hemmt das Wachstum von Tumoren. Mit dem neuen Wissen lassen sich theoretisch auf Grundlage der natürlichen Substanzen neue Wirkstoffe entwickeln, die bei bakteriellen Infektionen, Entzündungen und Krebserkrankungen eingesetzt werden könnten.
Noch sind dem Thymian aber nicht alle Geheimnisse entlockt: „Wir verstehen noch nicht im Detail, wie die genetische Regulation funktioniert. Wir haben einige Ideen dazu, die sind aber noch nicht bewiesen“, sagt Degenhardt. Die Forschung an den gut riechenden Pflanzen am Institut für Pharmazie wird also noch weitergehen.