Corona: Welche gesellschaftlichen Gruppen werden vergessen?

11.06.2020 von Tom Leonhardt in Wissenschaft, Varia
Die Corona-Krise und die Finanz- und Bankenkrise von 2008/2009 haben einiges gemeinsam: Vielen Menschen droht nicht nur der Verlust ihres Arbeitsplatzes, sondern auch ein sozialer Abstieg. Zudem gibt es die Gefahr, dass sich die Situation einzelner gesellschaftlicher Gruppen weiter verschlechtert. Die hallesche Arbeits- und Sozialrechtlerin Prof. Dr. Katja Nebe hat die Folgen der Finanz- und Bankenkrise untersucht und spricht im Interview über den Vergleich mit der heutigen Zeit.
Katja Nebe ist Professorin für Arbeits- und Sozialrecht an der Uni Halle.
Katja Nebe ist Professorin für Arbeits- und Sozialrecht an der Uni Halle. (Foto: Daniel Wachsmuth)

Die Corona-Pandemie macht sich im Wissenschaftsbetrieb insofern bemerkbar, dass alte Rollenmuster wieder befeuert werden: Viele Fachjournale verzeichnen gerade einen starken Rückgang von Einreichungen von Wissenschaftlerinnen. Die männlichen Kollegen dagegen publizieren auf einmal mehr …
Katja Nebe: Die Beobachtung mache ich in meinem Bereich auch: Frauen werden gerade unsichtbarer. Ich kann nur versuchen, das zu erklären. Es gibt aus der Zeit vor Corona bereits die Beobachtung, dass die Zunahme von Home-Office dazu führt, dass Frauen mehr Sorgearbeit – Haushalt, Pflege und Kinderbetreuung – leisten und Männer Überstunden eher in ihre berufliche Karriere investieren. Wer mehr Sorgearbeit leistet, hat weniger Zeit für andere Dinge. Das könnte unter der aktuellen Zunahme von Home-Office dazu führen, dass Männer ihr Mehr an Zeit in Publikationen stecken.

Das ist ein Bereich, der von außen nur schlecht einsehbar ist, sich auch nur schlecht steuern lässt und deshalb leicht übersehen werden kann …
Das habe ich mir auch gedacht. In Onlineausgaben juristischer Fachzeitungen, die ich lese, publizieren aktuell fast nur Männer, so weit ich es überschaue. Wie ließe sich das steuern? Wir sollten das auf jeden Fall kritischer beobachten und schauen, was veranlasst werden kann. Aufmerksamkeit ist ein erster wichtiger Schritt. Gesetzliche Regelungen zur geschlechtergerecht verteilten Sorgearbeit haben es in Deutschland schon länger schwer.

Gibt es gesellschaftliche Gruppen, die aktuell völlig übersehen werden?
Die Verantwortlichen waren dieses Mal deutlich schneller dabei, breitere gesellschaftliche Bedarfe zu erkennen und zu befriedigen. Beim Kurzarbeitergeld wurde diesmal zum Beispiel die Leiharbeit von Beginn der Krise an mitberücksichtigt. Für Eltern, die ihre Kinder wegen des Infektionsschutzes zu Hause beschulen müssen oder nicht in Kitas betreuen lassen können, wurde im Infektionsschutzgesetz eine sogenannte Eltern-Entschädigung eingeführt und diese kürzlich auf die Bezugsdauer von 20 Wochen verlängert. Es ist nicht immer sofort etwas passiert, aber die Politik hat diese Gruppen im Blick.

Aus dem Blick gefallen sind jedoch zum Beispiel die so genannten geringfügig Beschäftigten und das sind mit etwa 4,5 Millionen in Deutschland nicht gerade wenige Menschen. Diese erhalten kein Kurzarbeitergeld und ihre Jobs brechen häufig sofort weg. Nicht berücksichtigt wurde auch die Gruppe der Menschen mit pflegebedürftigen Angehörigen, die nur teilstationär versorgt sind, beispielsweise in der Tagespflege, und für die es aktuell an einer Betreuung fehlt. Hier gibt es im Moment praktisch keine nennenswerten Ersatzdienstleistungen und für die pflegenden Angehörigen keinen Ersatz für deren wegfallendes Einkommen.

Kommen wir noch einmal auf die Familien zurück. Wie können diese mit der Situation umgehen und wie kann der Arbeitgeber weiter entlasten?
Eine Person mit solch kollidierenden Pflichten lässt sich nicht „teilen“ oder „verdoppeln“. Man kann aber schauen, ob die Betroffenen ihre Arbeitsleistung im Home-Office erbringen können, um für die Betreuung und Pflege vor Ort zu sein. Wer aus bestimmten Gründen nicht von zu Hause arbeiten kann, verliert meist seinen Entgeltanspruch – Eltern haben in diesem Fall einen begrenzten Anspruch, bis zu zehn Tage, auf Entgeltfortzahlung. Dass dies nicht reicht, hat der Bundesgesetzgeber schnell erkannt und die schon erwähnte Elternentschädigung eingeführt; der Bund ist auch bei der Finanzierung eingesprungen. Würden die Unternehmen die Entgeltfortzahlung in diesen Größenordnungen tragen müssen, ohne dass die Beschäftigten arbeiten, wäre das wirtschaftlich nicht zu bewältigen. Das greift aber wie gesagt nur für Eltern, nicht für andere Gruppen.

Zu entscheiden war auch, wie begrenzte Betreuungskapazitäten in Einrichtungen verteilt werden – meist nach „systemrelevanten Tätigkeiten“. Eine Stellschraube ist zudem, Entlastung durch geänderte und begrenzte Arbeitszuteilung herbeizuführen. Es muss priorisiert werden und manches auch liegen bleiben können. Hier mussten die Akteure in Betrieben und Dienststellen kreativ werden. Am Ende stellt sich auch die Frage, wann Arbeitgeber und Unternehmen überfordert sind. Gewiss lässt sich leider nicht jedes Dilemma auflösen. Wie Erleichterungen aussehen können, kommt stark auf die Branche an. Aus Sicht der Beschäftigten wäre es ideal, wenn die Arbeit so gestaltet wird, dass die berufliche Weiterentwicklung nicht gefährdet ist. Im Lichte der Krisenerfahrung sollten Arbeitgeber zudem Leitlinien verankern, dass die Personen, die in Krisenzeiten besondere Verpflichtungen wahrnehmen mussten, dadurch gegenwärtig und auch künftig keine Nachteile haben.

 

"Nach der Banken- und Finanzkrise gab es viele Stimmen, die sagten, dass die Interventionsmaßnahmen die soziale Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben haben." - Katja Nebe

 

Gleichzeitig werden jetzt auch umfangreiche Hilfspakete für die Wirtschaft geschnürt. Zu wessen Lasten geht das?
Für die Banken- und Finanzkrise von damals lässt sich das gut nachweisen: Da gab es mehrere große Gesetzespakete – die sogenannten Konjunkturpakete I und II. Diese beinhalteten zum Beispiel die Verlängerung des Kurzarbeitergelds und die Abwrackprämie. Das waren damals immense Geldsummen, die beschlossen wurden. Mit den Aufwendungen von heute lassen sie sich aber nicht vergleichen. Dann gab es aber noch ein drittes Gesetzespaket: Da wurde dann im Bundeshaushalt nach Finanzierungsreserven geschaut. Und für das dritte Paket war auffällig, dass in vielen Bereichen des Sozialrechts Änderungen vorgenommen wurden: Da wurden etwa Rechtsansprüche auf bestimmte Leistungen in Ermessensleistungen umgewandelt, bestimmte Leistungen wurden auch auf andere angerechnet.

Können Sie dafür ein konkretes Beispiel nennen?
Nehmen wir Studierende, die sich für die Betreuung ihrer neugeborenen Kinder beurlauben lassen und nicht wie Arbeitnehmer*innen Elternzeit beantragen können. Sie bekommen während dieser Zeit kein Bafög und müssen deshalb Sozialleistungen zur Existenzsicherung beantragen, also so genanntes Hartz-IV oder richtig gesagt SGB-II-Leistungen. Bis zur Finanzkrise wurde Elterngeld auch an Eltern gezahlt, die Grundsicherungsleistungen beziehen. Seit der Konsolidierung im Jahr 2011 wird Elterngeld, selbst das Mindestelterngeld in Höhe von 300 Euro, vollständig auf die Grundsicherung angerechnet, also gestrichen.

Für die aktuelle Situation werden Kompensationen ja schon diskutiert, aber Genaues lässt sich noch nicht sagen. Auffällig ist aber, dass die Berufsgruppen, die zu Beginn der Pandemie in Deutschland als systemrelevant eingeordnet wurden, häufig eine hohe Frauenerwerbsbeteiligung aufweisen: der Verkauf im Einzelhandel, das Pflege- und Gesundheitswesen und Erzieherinnen in der Notbetreuung. Spontan wurde diskutiert, diesen Einsatz durch Bonuszahlungen zu honorieren. Gesellschaftlich viel wichtiger ist es doch aber, dass wir uns nachhaltig darum kümmern, dass Beschäftigte in diesen Bereichen besser bezahlt werden, das heißt für mich auch, dass geschlechtsspezifische Gehaltsunterschiede in Deutschland ernsthafter thematisiert und abgebaut werden.

Ist es überhaupt möglich, im Vorfeld alles zu bedenken?
Nein, das glaube ich nicht. Es gibt diesen Spruch: Wir sind morgen schlauer als heute. Der erklärt bestimmte Dinge, entlastet uns aber nicht, gute und valide Prognosen anzustellen. Ich bin der Meinung, dass man aus früheren Krisen und deren Bewältigung lernen muss. Nach der Banken- und Finanzkrise gab es viele Stimmen, die sagten, dass die Interventionsmaßnahmen die soziale Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben haben. Wir haben inzwischen eine noch größere Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen. Die Gruppe langzeitarbeitsloser Menschen ist zu groß, wir hängen zu viele Menschen ab.

Aktuell wird die Bildung ganz stark in den privaten Raum verlagert. Das gilt für Kindergarten- und Schulkinder genauso wie für Studierende. Bisher wurde zu wenig darauf geachtet, wie man Menschen mitnehmen kann, die sich bestimmte Ausstattungen nicht leisten können und auch mit der Bedienung schlicht überfordert sind. Beim Bezug von Sozialleistungen ist einiges vereinfacht worden, Kinder aus bildungsferneren Schichten haben es aber dennoch schwerer, im Zuge der Krise mit Bildung versorgt zu werden. Das wird das Ziel von Chancengerechtigkeit durch Bildung weiter weg rücken.

Nehmen wir an, das Ende der Pandemie steht bevor. Worauf müssten wir achten, damit es am Ende keine Verlierer gibt?
Das Wichtigste ist, dass wir uns im Alltagsdruck nicht zu schnell der notwendigen Hygienestandards entledigen. Außerdem hoffe ich, dass wir einen besseren Blick auf Prävention bekommen. Wir haben in der Arbeitswelt eine völlig überzogene Präsenzkultur: Wer nicht sichtbar ist, gilt schnell als faul. Wir müssen aus der Krise auch etwas mitnehmen und Ressourcen für Entschleunigung und Gesundheitsprävention bereitstellen. Dazu gehört auch das Bewusstsein, mit Husten oder Schnupfen nicht ins Büro zu gehen.

In der Präambel der 6. Eindämmungsverordnung des Landes Sachsen-Anhalt steht, dass wir Verantwortung und Fürsorge insbesondere für die gefährdeten Gesellschaftsgruppen übernehmen und dass wir unser eigenes Handeln am Gemeinwohl ausrichten sollen. Ich würde mir wünschen, dass dieser Appell langfristige Wirkung über diese Legislaturperiode hinaus entfaltet.

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