Der Wert von Erinnerungen: Ein Abend zum Buch „Geschichtszeichen der Freiheit“

Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann zählt seit Jahrzehnten zu den international renommiertesten Forscherinnen, wenn es um das Thema der Erinnerungskultur geht. Gemeinsam mit ihrem Mann Jan Assmann hat sie den Begriff des „kulturellen Gedächtnisses“ geprägt und theoretisch ausgearbeitet. Dabei wird der Erinnerung an vergangene Ereignisse, die mithilfe von Medien wie Schrift und Bild, Gesang und Tanz oder zum Beispiel durch den Bau von Museen und Denkmälern über die Generationen hinweg weitergegeben werden, eine zentrale Bedeutung für den Fortbestand und die Weiterentwicklung von Gesellschaften zugeschrieben.
In ihrem Wittenberger Vortrag verwendete Assmann einen Begriff von Geschichtszeichen, der die ursprüngliche Fassung bei Immanuel Kant – im Sinne eines Erinnerungsmals menschheitlicher Freiheitsaufbrüche – um die Erinnerungen negativer Ereignisse ergänzte. Auf dieser Basis musterte Assmann die Erinnerungsgeschichte der vergangenen Jahrzehnte und diagnostizierte zugleich verpasste Geschichtszeichen, die es nicht in das kollektive Gedächtnis geschafft haben.
In ihren Erkundungen des Gedächtnisses der Friedlichen Revolution bezog sie die Vorgeschichte mit ein, deren Betrachtung sie bei der Verabschiedung der KSZE-Akte 1975 einsetzen ließ, um über die Befreiungsbewegungen in Ungarn und Polen auf die Vorgänge der Friedlichen Revolution hinzulenken. Anhand literarischer Ausdrucksgestalten Durs Grünbeins konkretisierte Assmann die Revolutionserfahrung und wies dabei auch auf deren religiöse Dimensionen hin.
Sowohl in ihrem Vortrag als auch in der anschließenden Diskussion unterstrich Assmann nachdrücklich das immense Potenzial, das sie der Deutung der Friedlichen Revolution als einem Geschichtszeichen der Freiheit für die gesellschaftlichen Selbstverständigungsdebatten und Identitätsbildungsprozesse der Gegenwart zumisst. Es sei die einzige erfolgreiche Revolution gewesen, die die Deutschen geschafft hätten, zugleich führe sie von Anfang an europäische Dimensionen mit sich. Der Hoffnung der Herausgeber des Bandes, die Friedliche Revolution nicht nur als Gegenstand empirischer Forschung zu betrachten, sondern auch im Rahmen eines normativen Erinnerungsprojekts zu feiern, schloss sie sich vorbehaltlos an.
In der Diskussion, an der sich auch das Publikum rege beteiligte, spielte unter anderem die Frage eine Rolle, wie das gedächtniskulturelle Potenzial dieses Geschichtszeichens der Freiheit stärker zur Geltung gebracht werden könne. Hier appellierte Assmann einerseits an gesellschaftliche Akteure, sich die Sache zu eigen zu machen und auf ihren jeweils unterschiedlichen Feldern Verantwortung zu übernehmen. Insbesondere den Medien komme in diesem Zusammenhang eine wichtige Funktion zu. Zugleich hob Assmann die Notwendigkeit institutioneller Rahmenbedingungen hervor, die ein solches Erinnerungsprojekt braucht – von der Gestaltung schulischer Curricula bis hin zur Kultur nationaler Gedenkveranstaltungen.
Wenig überraschend begrüßte Assmann denn auch die Gründung des Zukunftszentrums für Deutsche Einheit und Europäische Transformation in Halle. Für die aktuell diskutierte Frage der inhaltlichen Ausgestaltung dieses Zentrums verwies sie unumwunden – auf das Geschichtszeichen der Freiheit.
Zum Buch
Wie blicken wir heute auf die Friedliche Revolution? Wie historisch bedeutend war, was 1989/90 passiert ist? Und war das, was passiert ist, gut oder schlecht? Mit diesen Fragen – regelmäßig diskutiert in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft – befasste sich 2024 die Ringvorlesung „Geschichtszeichen der Freiheit“. Organisiert von den Theologen Prof. Dr. Constantin Plaul (inzwischen Universität Regensburg) und Dr. Karl Tetzlaff (Stiftung Leucorea) war sie ein Beitrag der MLU anlässlich des 35. Jahrestags des Mauerfalls – und zum in Halle entstehenden Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation. Der im Verlag Mohr Siebeck erschienene Band – verfügbar als Open-Access-Publikation und als Printprodukt – dokumentiert die unterschiedlichen Beiträge der Ringvorlesung, die unter anderen von Joachim Gauck, Stephan Wackwitz und Marina Weisband stammen.
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