Wie Mathematik einen Forschungszweig erschüttert
Es war eine Arbeit mit gehörigem Überraschungseffekt, die zu großem Widerstand, aber am Ende zu noch größerem Erfolg führte. Vor etwas mehr als 20 Jahren wollte Georg Schmidt, damals Habilitand in Würzburg, eigentlich nur ein paar Berechnungen zu einem Experiment anstellen. Sein Thema: die sogenannte Halbleiter-Spintronik, damals ein beliebtes Forschungsgebiet mit dem Ziel, neue Transistoren und Datenspeicher zu entwickeln. „Eine Idee war, Spininformationen von Elektronen aus metallischen Ferromagneten in Halbleiter zu übertragen“, erklärt Schmidt, heute Professor am Institut für Physik der Uni Halle. Das sollte ihre Lebensdauer erhöhen. Doch anstatt zu berechnen, wie das funktionieren könnte, rechnete er aus, dass es nicht funktionieren kann. „Ich konnte das selbst erst kaum glauben“, erzählt er. Ein ganzer Forschungszweig versuchte etwas zu machen, was mathematisch nicht möglich sein sollte? Fast ein Jahr habe er mit seinen Kollegen an dem Problem herumgerätselt, so Schmidt. „Irgendwann meinte mein Chef, ich solle das mal veröffentlichen.“ Was er auch tat.
Anfangs hat er sich damit nicht nur Freunde gemacht. „Meine Berechnungen haben gezeigt, dass ein guter Teil der damaligen Experimente auf dem Gebiet der Spininjektion nicht funktionieren konnte“, sagt Schmidt. „Das hat manchem Projekt die Grundlage entzogen.“ Projekten etwa, in denen vielleicht gerade erst die Förderung für ein solches Experiment beantragt worden war. Zum Teil sei er regelrecht angefeindet worden. Ihm sei sogar vorgeworfen worden, dass er als Experimentalphysiker überhaupt eine solche theoretische Arbeit veröffentlicht hatte. Das legte sich etwas, als auf einem Kongress in Regensburg ein bekannter russischer Theoretiker die Berechnungen bestätigte. Es habe zwar nach wie vor Skeptiker gegeben, aber, so Schmidt: „Ich hatte das Ohm’sche Gesetz auf meiner Seite.“
Bis dahin waren bereits viele Arbeitsgruppen weltweit daran gescheitert, Spininformationen in einem nennenswerten Umfang in Halbleiter zu übertragen. Bei seinen Berechnungen konzentrierte Schmidt sich vor allem auf das sogenannte elektrochemische Potential für die beiden Spinorientierungen in den verschiedenen Materialien, das er als eine Art Spannung betrachtete. „Versucht man, viel von einer Spinart in den Halbleiter zu bringen, erhöht sich diese Spannung.“ Und damit kommt eben jenes physikalische Gesetz zur Anwendung, das viele schon in der achten Klasse kennenlernen: das Ohm’sche Gesetz. Es besagt, dass eine hohe Spannung nicht in einem Metall wie dem Ferromagneten entstehen kann, da sie aufgrund des niedrigen Widerstandes zu extrem hohen Strömen führen würde. „Je mehr von einer Spinart in den Halbleiter übertragen wird, desto größer wird diese Spannung und der Ferromagnet wirkt als eine Art Kurzschluss“, so Schmidt. Diese Berechnung erklärte, warum die Übertragung von einem metallischen Ferromagneten in einen Halbleiter nicht gut funktionierte. Seine Theorie ist mittlerweile als „Conductance Mismatch“ bekannt.
Obwohl oder gerade weil diese Berechnungen auf simplen physikalischen Gesetzen beruhen, sei es gar nicht so einfach gewesen, sie zu veröffentlichen, erzählt Schmidt. Die Fachzeitschrift „Physical Review Letters“ lehnte zunächst ab mit der Begründung, die Theorie enthalte wenige originelle Erwägungen und sei nur für ein paar Spezialisten interessant. Auch ein zweiter Versuch scheiterte. Schmidt wurde an die spezialisiertere Fachzeitschrift „Physical Review B“ verwiesen, die seine Berechnungen als sogenannte „Rapid Communication“ publizierte – also als kurzen Artikel, der schnell veröffentlicht wird.
Heute gehört die Veröffentlichung nicht nur zu den Meilenstein-Studien in der Geschichte der Zeitschrift, sondern ist auch die meistzitierte in Schmidts Karriere. Mehr als 2.400 Studien beziehen sich inzwischen auf Schmidts Berechnungen. In zahlreichen Vorträgen stellte er seine Erkenntnisse vor, war fortan an vielen Projekten beteiligt. Im Nachhinein betrachtet habe die Veröffentlichung einen wesentlichen Teil seiner wissenschaftlichen Karriere begründet, sagt der Wissenschaftler. Seine Arbeit wurde mit Preisen geehrt, unter anderem erhielt er 2005 den mit 30.000 Euro dotierten Rudolf-Kaiser-Preis des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Bis heute werde die Arbeit auf wissenschaftlichen Fachkongressen zitiert, erzählt Schmidt.
Mit der Halbleiter-Spintronik hat der Physiker seit seinem Wechsel nach Halle 2009 weniger zu tun. Im Bereich der Nanostrukturierten Materialien macht er zwar immer noch Spintronik, jetzt aber mit Metallen und Oxiden und nicht nur mit Elektronenspins, sondern auch mit sogenannten Spinwellen – aber immer auf der Suche nach neuen Bauelementen.
Kommentare
Frederik am 29.01.2021 23:24
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