„Wenn wir nicht zusammenhalten, verschwinden wir“ – Romano Prodi im Interview
Auf der Pressekonferenz am Mittag sagten Sie, dass Sie extra früh aufgestanden sind, um vor dem Festakt zu Ihren Ehren noch die Stadt zu besichtigen. Was haben Sie von Halle schon gesehen?
Wir sind viel gelaufen. Das ist eine viel bessere Art der Stadtbesichtigung, als sich nur von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit fahren zu lassen. Wir haben die Franckeschen Stiftungen besucht und waren in der Marktkirche, um uns die Totenmaske von Martin Luther anzuschauen. Und wenn man so durch die Stadt läuft, bemerkt man schnell, wie wichtig die Universität für Halle ist. Sie ist sehr präsent.
Für Italien ist das heute ein ziemlich wichtiger Tag – der designierte Ministerpräsident Mario Monti hat gerade seine Regierung bekannt gegeben. Und Sie sind an diesem Tag in Halle…
Ja und ich bin froh, in Halle zu sein. Beim Mittagessen habe ich mir die Liste mit den neuen Regierungsmitgliedern angesehen und ich sage Ihnen, das ist eine fantastische Auswahl! Das sind hochqualifizierte Menschen, die ein sehr gutes Team bilden werden. Und es ist ein Aufbruch – weg von dem, was war. Natürlich kann ich nur meinen persönlichen Eindruck wiedergeben, ein Urteil kann ich mir noch nicht erlauben. Aber ich bin optimistisch. Ich glaube, diese Regierung wird in der Lage sein, die Entscheidungen zu treffen, die jetzt getroffen werden müssen.
Das Bild, das die Welt in den letzten Jahren von meinem Land erhalten hat, war nicht das wahre Bild von Italien. Ich kenne die Schwächen meines Landes, aber wir Italiener sind besser als der Eindruck, den Berlusconi in der Welt hinterlassen hat.
Würden sie jetzt in dieser Zeit der großen Herausforderungen gern wieder in die Politik zurückkehren?
Politik ist wie eine ansteckende Krankheit. Ich liebe Politik, aber ein guter Politiker muss wissen, wann die Zeit reif ist, aufzuhören. Und das habe ich vor drei Jahren getan. Ich habe ja trotzdem noch viele Aufgaben und bin mit diesen sehr glücklich. Ich habe einen Lehrstuhl an der China Europe International Business School in Peking, ich gebe Vorlesungen an der Brown University in den USA. Ich bin Präsident der „Foundation for Worldwide Cooperation“ und Vorsitzender des „Panel for Peacekeeping in Africa“, das die Vereinten Nationen gemeinsam mit der Afrikanischen Union organisieren.
Sie haben jahrzehntelang parallel zu ihren politischen Ämtern an der Universität gelehrt. Was hat Sie an der Uni gehalten?
Ich mag das akademische Leben, das war meine Wahl damals. Zur Politik bin ich relativ spät gekommen. Wenn man sein akademisches Leben aber einmal für die Politik unterbricht, dann kann man im Anschluss nicht einfach zurückkehren und dasselbe lehren wie zuvor. Während meiner 30 Jahre in der Politik habe ich nicht mehr jede aktuelle Entwicklung auf meinem Fachgebiet verfolgt. Deshalb greife ich jetzt in der Lehre eher auf meine Erfahrungen in der Politik zurück und spreche über politische und wirtschaftliche Strukturen und Regierungslehre im Allgemeinen. Kombiniert mit meinem Fachwissen als Wirtschaftswissenschaftler kann das für die Studenten ganz nützlich sein, denke ich. Aber heute unterrichte ich nicht mehr ein ganzes Semester lang, sondern nur in einzelnen Intensivseminaren oder Vorlesungen.
Was mögen Sie so an der universitären Lehre?
Ich mag die Arbeit mit den Studenten – ganz besonders auch mit Studenten aus verschiedenen Ländern. In den Gesprächen mit ihnen kann man mehr über die Zukunft ihres Landes erfahren als aus der Zeitung. Man erkennt, ob die Jugend optimistisch und selbstbewusst in die Zukunft blickt – ob sie glaubt, dass die Zukunft ihr gehört oder nicht.
Wie wichtig sind Universitäten für das Zusammenwachsen in der Europäischen Union?
Ich glaube, dass das Erasmus-Programm für die Zukunft der europäischen Union von höchster Bedeutung ist. Natürlich hat ein Erasmusaufenthalt keine direkt sichtbaren Konsequenzen, aber er ist eine Investition in die Zukunft.
Als damals einige europäische Staaten meinen Vorschlag ablehnten, das Budget für Erasmus zu erhöhen, war das für mich das erste Zeichen einer Krise der EU. Wenn Sie hunderttausenden jungen Europäern die Möglichkeit geben, sich kennen zu lernen, dann begründen sie damit eine europäische Mentalität! Und das hielten einige für nicht so wichtig. Aus meiner Sicht war das eines der schlechtesten Signale, die man aussenden konnte.
Neben Erasmus gibt es auch binationale Studienprogramme wie den Master „Europäische Integration und Regionale Entwicklung“ der Universitäten in Halle und Mailand. Welche Bedeutung haben die?
Ich halte diese Kooperation der MLU mit der Universitá Cattolica del Sacro Cuore für sehr wichtig. Natürlich nimmt daran jeweils nur eine kleine Zahl von Menschen teil – aber sie sind Multiplikatoren, die tief in die Kultur beider Länder eingedrungen sind. Sie werden einmal lehren oder in Positionen arbeiten, wo sie dieses Wissen einbringen können. All diese verschiedenen Angebote bringen Schritt für Schritt eine gemeinsame europäische Kultur hervor, auch wenn das natürlich alles seine Zeit braucht.
Sie haben heute sehr viele europäische Themen angesprochen - wie sie vermutlich auch an den meisten anderen Tagen über Europa sprechen und schreiben. Warum beschäftigt Sie dieser Kontinent so sehr?
Wenn wir nicht zusammenhalten, verschwinden wir. Ich glaube, dass in dieser Welt ein Land allein nicht überleben kann – nicht einmal so große Länder wie Deutschland.