Kunst und Wissenschaft treffen sich in Wagners größtem Opernzyklus

18.12.2024 von Katrin Löwe in Wissenschaft, Wissenstransfer
Wie wurde zu Zeiten von Richard Wagner (1813-1883) gesungen und gesprochen? Diese Frage ist wesentlicher Bestandteil eines Projekts, in dem die vier Teile des berühmten Opernzyklus „Der Ring des Nibelungen“ neu aufgeführt werden. MLU-Sprechwissenschaftlerin Prof. Dr. Ursula Hirschfeld trägt dazu mit Forschungen, aber auch ganz praktisch bei den Proben mit Sängerinnen und Sängern bei. Ein Wissenstransfer der besonderen Art.
Szene aus der Opernaufführung "Die Walküre" bei den Dresdner Musikfestspielen in diesem Jahr.
Szene aus der Opernaufführung "Die Walküre" bei den Dresdner Musikfestspielen in diesem Jahr. (Foto: Dresdner Musikfestspiele / Oliver Killig)

Die Musikwelt ist begeistert. Die Neue Zürcher Zeitung titelte in diesem Jahr „So hat man Wagner noch nicht gehört“ und schwärmte von einer musikalischen Sensation. In der Zeitschrift Opernwelt ist die Botschaft in der Überschrift einer Rezension: „Und man versteht sie auch“. Und die New York Times nahm eine der Aufführungen gerade sogar in ihre Liste der weltweit besten Vorstellungen 2024 auf. In allen drei Fällen geht es um Aufführungen im Rahmen eines künstlerischen Mammut-Projektes. Zum 150-jährigen Jubiläum der Uraufführung von Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“ 1876 bei den Bayreuther Festspielen werden im Projekt „The Wagner Cycles“ unter Leitung des international renommierten Dirigenten Kent Nagano und des Intendanten der Dresdner Musikfestspiele Jan Vogler alle vier Teile des Opernzyklus in konzertanten Aufführungen neu umgesetzt. Die Rede ist von „historisch informierter Aufführungspraxis“. Das bedeutet auch, dass damals verwendete Instrumente genutzt beziehungsweise nachgebaut werden und die damalige Gesangssprache rekonstruiert wird. An der Stelle kommt die Universität Halle ins Spiel, genauer gesagt Sprechwissenschaftlerin Ursula Hirschfeld. Was Richard Wagner in seinen Opern sagen wollte und wie – das erforscht sie nicht nur seit einigen Jahren, das bringt sie in zahlreichen Proben auch den Sängerinnen und Sängern des Projekts nahe. „Richard Wagner hat Sänger beschimpft, die nicht verständlich gesungen haben. Ihm ging es nicht um den Wohlklang der Musik in erster Linie, ihm ging es darum, Botschaften mit Hilfe des Gesangs zu übermitteln“, sagt Hirschfeld. Er sei der erste Opernkomponist gewesen, der so viel Wert auf Textverständlichkeit gelegt habe.

Ursula Hirschfeld engagiert sich auch im Ruhestand für die Uni und die Wissenschaft.
Ursula Hirschfeld engagiert sich auch im Ruhestand für die Uni und die Wissenschaft. (Foto: Maike Glöckner)

Den ersten wissenschaftlichen Berührungspunkt mit Wagner hatte Ursula Hirschfeld im Jahr 2017 – damals durch eine Anfrage der Hochschule für Musik und Tanz in Köln. In einem von 2018 bis 2023 laufenden Vorgängerprojekt unter dem Titel „Wagner-Lesarten“ wollte die Hochschule mit dem Orchester „Concerto Köln“ und Kent Nagano zurück zur Quelle, zur Instrumental-, Gesangs-, Sprach- und Bühnenpraxis der Wagner-Zeit. Wie man dabei auf die MLU gekommen ist? „Die hallesche Sprechwissenschaft ist das einzige universitäre Institut, das sich mit Aussprachentwicklung und Aussprachenormierung beschäftigt“, sagt Hirschfeld. Schon ein paar Tage nach dem ersten Anruf aus Köln fand ein Treffen statt – und wie der Zufall es wollte, baten zeitgleich zwei Studierende bei ihr um Ideen für ihre Masterarbeiten. Beide haben sich schließlich mit Themen rund um die „Wagner-Lesarten“ befasst. Und: Schon 2019 widmete sich auch eine Tagung im Rahmen der „Kleine-Fächer-Woche“ an der MLU schwerpunktmäßig mit Aspekten der Bühnenaussprache und Wagner.

Es war der Auftakt für eine Arbeit, die Hirschfeld inzwischen weit über ihre Emeritierung hinaus beschäftigt – überwiegend ehrenamtlich, wie sie sagt. „Aber mit großem Interesse und großem Nutzen auch für mich selbst“. Sie sei bis dahin kaum im künstlerischen Bereich tätig gewesen. Und auch der Blick in die Geschichte – zumindest die weiter zurückliegende – war neu. Die Universität Halle ist bereits seit den 1950er Jahren ein Zentrum der Forschung zur Standardaussprache in Deutschland, am letzten von drei an der MLU entstandenen Aussprachewörterbüchern war Hirschfeld selbst beteiligt. Natürlich habe es dabei immer auch Ausführungen zur Geschichte gegeben, zurück bis zum Erscheinen des ersten anerkannte Regelwerks für Bühnenaussprache 1898. „Aber zur Ausspracheentwicklung im 19. Jahrhundert gab es so gut wie keine Untersuchungen“, so Hirschfeld. Das änderte sich mit dem Wagner-Projekt.

Dirigent Kent Nagano (am Pult) hat gemeinsam mit dem Intendanten der Dresdner Musikfestspiele die künstlerische Leitung der Wagner Cycles inne.
Dirigent Kent Nagano (am Pult) hat gemeinsam mit dem Intendanten der Dresdner Musikfestspiele die künstlerische Leitung der Wagner Cycles inne. (Foto: Dresdner Musikfestspiele / Oliver Killig)

Rund 150 Quellen aus dem 19. Jahrhundert haben die halleschen Sprechwissenschaftler um Ursula Hirschfeld ausgewertet, neben den Masterarbeiten ist 2023 auch eine Dissertation von Ulrich Hoffmann entstanden. Beschrieben wurden vor allem Vokale und Konsonanten und die Beziehungen zwischen Schrift und Aussprache – insbesondere von Gesangs- und Sprachlehrern, aber auch von Wissenschaftlern wie Wilhelm Viëtor (1850-1918) oder Theodor Siebs (1862-1941), deren Werke bis heute Einfluss haben.

Aus ihrer Sicht, so Hirschfeld, habe das 19. Jahrhundert schon mit einem „richtigen Knaller“ begonnen – und mit keinem Geringeren als Goethe. Der hatte 1803 als Theaterdirektor in Weimar „Regeln für Schauspieler“ verfasst, in denen er eine „reine und vollständige“ Aussprache jedes einzelnen Wortes inklusive aller Buchstaben forderte und gegen Dialekte auf der Bühne wetterte: „Wenn mitten in einer tragischen Rede sich ein Provinzialismus eindrängt, so wird die schönste Dichtung verunstaltet und das Gehör des Zuschauers beleidigt.“

Viele seien damals ähnlicher Meinung gewesen, sagt Hirschfeld – auch Richard Wagner und dessen Mitarbeiter, der Gesangslehrer und Musikpädagoge Julius Hey. Bis heute nimmt Hirschfeld deren überlieferte Schriften zur Hand, wenn sie die Proben für das seit 2023 in Dresden angesiedelte Projekt „The Wagner Cycles“ vorbereitet. „Wagner hat ja einen Wortschatz verwendet, der zum Teil heute überhaupt nicht mehr bekannt ist“, sagt die Wissenschaftlerin – sie müsse also auch die Inhalte klären und herausfinden, wie Worte oder Namen ausgesprochen wurden. Dazu kommen Änderungen im Gesang: Wagner und Hey haben zum Beispiel sehr viel Wert auf Konsonanten und die deutliche Trennung von Worten und Silben gelegt. „Schläfst du“ darf dabei nicht zum „Schläfsu“ verschwimmen. Erst damit würden Teile des Gesungenen verständlich.

Das alles bereitet Hirschfeld in Materialien für die Sängerinnen und Sänger auf. Sie hält Online-Proben zur Aussprache mit jedem von ihnen – aktuell sind es zehn Männer und Frauen – und ist regelmäßig wechselnd in Dresden und Hamburg bei den Gesangsproben vor Ort. „Die Konsonanten am Wortende deutlich zu singen, fällt vielen schwer“, sagt Hirschfeld – und sei allein durch die dafür notwendige Körperspannung anstrengend. Ab und an, räumt Hirschfeld zugleich ein, müssten im Sinne von Wagner auch Kompromisse gefunden werden, ein Mittelweg zwischen Original und heutigen Hörgewohnheiten.

Bis zum Nibelungen-Jubiläum im Jahr 2026 wird im Rahmen von „The Wagner Cycles“ vom Dresdner Festspielorchester und Concerto Köln in jedem Jahr ein Teil des Opernzyklus neu an verschiedenen Spielorten aufgeführt – 2023 war es „Das Rheingold“, in diesem Jahr „Die Walküre“, im kommenden Jahr „Siegfried“ und 2026 schließlich „Götterdämmerung“. Viel Arbeit für Ursula Hirschfeld, die den praktischen Probenteil mit der Walküre von ihrem Doktoranden Ulrich Hoffmann übernommen hat. Zumal: Seit 2018 ist sie eigentlich im Ruhestand. Der aber, sagt sie, sei für sie als Wissenschaftlerin nur eine Formalie. Wagner, die Verbindung von Wissenschaft und musikalischer Praxis – das alles sei interessant und herausfordernd zugleich. Sie fühle sich eigentlich wie in einem „ewigen Forschungsfreisemester“. Und sagt: „Besser konnte es nicht kommen.“

Mehr Informationen:

zum Projekt „Wagner-Lesarten“ (2018-2023): https://wagner-lesarten.de/

zum Projekt „The Wagner Cycles“ (2023-2026): https://www.musikfestspiele.com/de/der-ring/the-wagner-cycles

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Sprechwissenschaft

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