Metamorphosen einer Stadt – Venedig im Spiegel literarischer Texte
Es ist dies eine Zeit des Umbruchs, einer neuen Selbstfindung der Stadt, die einer tiefgreifenden Sinnkrise folgte. Die Serenissima hatte zu einem großen Teil ihr über Jahrhunderte hinweg gepflegtes Selbstverständnis der Inkommensurabilität eingebüßt, hatte sich geöffnet für einen Massentourismus, der die Ortsansässigen mit all jenen kulturellen Hervorbringungen bekannt machte, die der europäischen Aufklärung ihre Entstehung verdankten: Geselligkeit, Technik, Mode, um nur einige zu nennen.
Die „Metamorphose Venedigs“ (S. 31), die in der bildenden Kunst jener Jahre häufig zum Gegenstand gemacht wurde, findet auch in der Literatur um 1750 ihre vielgestaltigen Entsprechungen. Sie provozierte innerhalb der Stadt eine ungemein große literarische Produktivität. Als Gründe benennt Fajen „das problematische Verhältnis von Eigenem und Fremdem […], die Veränderung der Geschlechterverhältnisse, die Entstehung einer neuartigen Geselligkeitskultur sowie die Herausbildung von speziellen Räumen, die das umgestaltete Wesen der Stadt spiegeln“ (S. 81). Der bislang gehandhabten Abschottung von Fremdem folgte allmählich dessen Assimilierung.
Einen gewichtigen Platz in seinen Ausführungen beansprucht, neben den Dramatikern Carlo Gozzi oder Francesco Gritti, der wohl bedeutendste venezianische Literat jener Zeit: der Komödiendichter Carlo Goldoni. „Die überragende Bedeutung von Goldonis besten Komödien liegt darin, dass sie die Risse und Unstimmigkeiten moderner Lebensstile um 1750 so klar offen freilegen, dass man sie bis heute im Theater der Gegenwart verstehen und nachvollziehen kann“ (S. 77). Beispielsweise in der Komödie L’uomo prudente (Der Umsichtige) von 1748, in der „grundlegende Veränderungen im Geschlechterverhältnis, in der Liebessemantik und in der Familienstruktur Venedigs“ (S. 87) vorgestellt werden, die die Familie zu zerstören drohen. Die Tugendhaftigkeit des Protagonisten überwindet die Bedrohung, die Risse im Familientableau aber sind nicht zu übersehen, sie verweisen auf „den unlösbaren Konflikt zwischen Tradition und Moderne“ (S. 96).
Neben der offiziellen, von der Zensur abgesegneten Literatur kursierte in der Stadt, meist handgeschrieben, eine im Verborgenen distribuierte Literatur, die in parodistischer Weise die „Welt der Obszönitäten und Ausschweifungen“ (S. 243) aufzeigte. Die Gedichte der Patrizier Giorgio Baffo, Marc’Antonio Zorzi und Francesco Gritti erlauben „einen schonungslosen Einblick in die innere Zerrissenheit des Patriziats und die damit einhergehende Krise der Stadt“ (S. 247).
Den Abschluss der Recherchen bildet eine Untersuchung von Francesco Grittis Roman La mia istoria ovvero Memorie del signor Tommasino scritte da lui medesimo, opera narcotica del Dottor Pifpuf (Meine Geschichte oder Memoiren Herrn Tommasinos, von ihm selbst aufgeschrieben, narkotisches Werk des Doktor Pifpuf) von 1767/68. Dieser Roman, so Fajen, signalisiere die Krisensituation der Serenissima um die Mitte des 18. Jahrhunderts, die Veränderungen in ihrem Selbstverständnis zeitigte und dabei einen neuen Mythos entstehen ließ: „von einem Ort, der anders ist als alle anderen und nur mit sich selbst verglichen werden kann“ (S. 375).
Fazit: Ein lesenswertes Buch, das nicht nur dem Spezialisten zu neuen Einsichten über die Serenissima verhilft, sondern auch den interessierten Laien (u. a. dank der hilfreichen Übersetzung italienischer Texte) in seinen Bann zu ziehen vermag.
► Robert Fajen: Die Verwandlung der Stadt. Venedig und die Literatur im 18. Jahrhundert. München 2013, 399 S., 38 s/w Abb., geb., ISBN: 978-3-7705-5391-4, 49,90 Euro.