Mechanisches Verhalten verstehen

Mechanische Eigenschaften spielen bei allen Anwendungen von Materialien beziehungsweise Werkstoffen eine besondere Rolle, auch wenn gegebenenfalls anderweitige Eigenschaften von primärem Interesse sind. Die primären Eigenschaften können aber mitunter nicht wirksam werden, wenn durch mechanisches Versagen, durch Bruch, Verformung oder fehlende Stabilität, die Funktionsfähigkeit eingeschränkt ist. Ein Verständnis des mechanischen Verhaltens von Festkörpern setzt Kenntnisse der grundlegenden Prozesse und Mechanismen voraus, auf denen die Eigenschaften basieren. Diese Prozesse laufen auf mikroskopischen Skalen etwa von 0,1 Millimeter bis 1 Mikrometer und darunter bis zu 1 Nanometer ab und bestimmen die Mikromechanik und Nanomechanik der Materialien.
Die als Lehrbuch geeignete Publikation ist von einem Fachmann auf dem Gebiet der Strukturaufklärung von Materialien und der Zusammenhänge zwischen den Strukturen und dem mechanischen Verhalten geschrieben. In den methodischen Aufbau des Buches sind Erfahrungen aus verschiedenen Lehrveranstaltungen der Werkstoffwissenschaft eingeflossen.
Das Werk gibt einen Überblick über die grundlegenden mikro- und nanomechanischen Effekte und Mechanismen in Festkörpern in einfacher, zusammengefasster Form. Schemata und Prinzipdarstellungen erleichtern das Verständnis der verschiedenen Prozesse und Mechanismen. Von besonderem Wert sind die elektronenmikroskopischen Aufnahmen von Deformationsprozessen, die durch Bruchflächenanalysen und zumeist durch in-situ Untersuchungen mittels der Transmissions-Elektronenmikroskopie (TEM), der Raster-Elektronenmikroskopie (REM) und der Raster-Kraft-Mikroskopie (atomic force microscopy - AFM) erhalten wurden. Dabei sind Untersuchungen mit der Höchstspannungs-Elektronenmikroskopie (HVEM) besonders aussagekräftig, da sie Deformationsuntersuchungen an relativ dicken Proben, die oft schon das charakteristische Materialverhalten aufweisen, ermöglichen.
Während zur Beschreibung und Bestimmung des mechanischen Verhaltens zu allen Werkstoffen eine breite Literatur existiert, gibt es weniger Werke zur Beschreibung der mikromechanischen Mechanismen von Deformation und Bruch und noch weniger zur Darstellung der nanomechanischen Effekte. So stößt das Buch in eine Lücke vor, die nicht nur zum Verständnis des mechanischen Verhaltens wichtig ist, sondern insbesondere auch für Forschung und Entwicklung bei der gezielten Verbesserung bestehender und bei der Entwicklung neuartiger Werkstoffe essenziell ist.
In dem Lehrbuch werden die Hauptklassen der Werkstoffe behandelt, amorphe anorganische (Gläser) und organische Materialien (Polymere, Kunststoffe), kristalline Materialien (Keramiken), Komposite und Schichtmaterialien. Im Detail werden spezielle materialübergreifende Effekte beschrieben, wie der Einfluss von Partikeln in unterschiedlichen Materialien (Sekundärrissbildung, weitere initiierte Deformationsmechanismen, Rissstopp-Mechanismen und Spannungskonzentrationen an Teilchen). Auf besondere Deformationsmechanismen wird gesondert eingegangen, wie auf das Phänomen der Craze-Bildung, auf Deformationstypen in Schicht- und Lamellenstrukturen und in biomedizinischen Materialien einschließlich Knochen, auf Deformationsprozesse in Nanokompositen, in Faserverbundmaterialien und in Nanofasern. Ein für zukünftige Entwicklungen relevanter Abschnitt beschreibt Nanometereffekte in heterogen strukturierten Materialien, die interessante Eigenschaftskombinationen erwarten lassen.
Das in der Vielfalt der behandelten Mechanismen und Prozesse doch übersichtlich gestaltete Buch ist für alle am mechanischen Verhalten von Werkstoffen Interessierte, für Werkstoffentwickler, Ingenieure und Materialprüfer geeignet. Es kann auch bei der Ausbildung von Studierenden höherer Semester der Materialwissenschaft und Physik eingesetzt werden.
Goerg H. Michler: Mechanik – Mikromechanik – Nanomechanik. Vom Eigenschaftsverstehen zur Eigenschaftsverbesserung. Berlin, Heidelberg 2024, 124 Seiten, 19,99 Euro, ISBN: 978-3-662-66965-5 (eBook 9,99 Euro, ISBN: 978-3-662-66966-2)