Kooperation auf Augenhöhe
Äthiopien gilt als Paradebeispiel für die Entwicklung der Volksgesundheit: Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich die Gesundheit vieler Menschen merklich verbessert – laut den Vereinten Nationen ist die Kindersterblichkeit von 335 Fällen pro Eintausend Geburten auf 49 im Jahr 2022 gesunken, die durchschnittliche Lebenserwartung hat sich im selben Zeitraum auf 65,4 Jahre nahezu verdoppelt.
Die positiven Trends in Bezug auf die Lebenserwartung gehen vor allem auf großangelegte Aktionen bei der Bekämpfung von Malaria, Tuberkulose und HIV zurück – und auf weitere Präventionsprogramme, etwa Masernimpfungen und eine verbesserte Betreuung von schwangeren Frauen. Diese Entwicklung bringe jedoch auch neue Herausforderungen mit sich: „Mit steigendem Alter erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, an Krebs oder einer anderen chronischen Erkrankung zu leiden“, sagt Prof. Dr. Eva Kantelhardt, Professorin für „Comparative Public Health“ an der MLU. Sie forscht am Institut für Medizinische Epidemiologie, Biometrie und Informatik an der Medizinischen Fakultät und ist gleichzeitig als Ärztin in der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe des Universitätsklinikums tätig.
Das äthiopische Gesundheitssystem, mit dem sie sich beschäftigt, ist auf die aktuelle Entwicklung in dem Land mit mehr als 120 Millionen Menschen noch nicht vorbereitet. Auf die Fläche – Äthiopien ist etwa dreimal so groß wie Deutschland – und die Bevölkerung betrachtet, gibt es in dem Land viel zu wenig medizinisches Personal, das häufig in den wenigen größeren Kliniken des Landes konzentriert ist. Allerdings lebt der Großteil der Menschen in kleineren Dörfern. „Im Allgemeinen bräuchte es mehr als dreimal so viel medizinisches Personal, um das von der Weltgesundheitsorganisation empfohlene Minimum zu erfüllen und die grundlegende Gesundheitsversorgung sicherzustellen.“
Eine Entwicklung macht Kantelhardt dabei besonders Sorgen: „Bei den Krebs-Neuerkrankungen in Afrika machen Frauen rund zwei Drittel aller Patienten aus.” Allein ein Drittel seien Brust- oder Gebärmutterhalskrebs. Das sei eine enorme Krankheitslast bei den Frauen.
„Mittlerweile sterben mehr Frauen an einem Brust- oder Gebärmutterhalskrebs als bei Geburten. Letzteres war vor einigen Jahrzehnten noch das größte Problem“, so Kantelhardt, die bereits während ihrer Studienzeit für acht Monate in Äthiopien und ein halbes Jahr in Südafrika lebte. Bei Gebärmutterhalskrebs seien etwa 90 Prozent der Neuerkrankungen und Todesfälle in einkommensschwachen Ländern zu verzeichnen. „Für beide Erkrankungen existieren effektive Präventions-, Diagnose- und Therapiemöglichkeiten“, so Kantelhardt. Allerdings fehle an vielen Stellen vor Ort das Wissen darüber und die Umsetzung.
Der Gedanke, sich hier stärker wissenschaftlich zu engagieren, kam Kantelhardt im Jahr 2007, als eine Freundin aus Äthiopien an Brustkrebs erkrankte. „Damals habe ich festgestellt, dass es im ganzen Land nur einen Onkologen gab, der sie behandeln konnte.“ Kantelhardt suchte nach Möglichkeiten, hier unterstützend tätig zu werden. Anfangs sei es schwierig gewesen, Fördermittel für ihre internationalen Projekte zu gewinnen. Die Situation hat sich mittlerweile deutlich geändert: Unter Leitung der Medizinischen Fakultät Halle und in enger Kooperation mit der Universität Addis Abeba entstand zum Beispiel 2020 das „Else-Kröner-Cancer-Center“ in Äthiopien, das von der „Else Kröner-Fresenius-Stiftung“ mit 2,5 Millionen Euro gefördert wird. Im Frühjahr erhielt ein internationaler Forschungsverbund unter Leitung Kantelhardts eine Förderung vom Bundesforschungsministerium über 6,5 Millionen Euro. Die britische Wissenschaftsstiftung „Wellcome trust“ fördert ebenfalls seit diesem Jahr ein weiteres Projekt mit insgesamt 4,3 Millionen Euro. „Bei der zweiten Förderung liegen die Verantwortung und das Projektmanagement bei meinen Kolleginnen und Kollegen in Addis Abeba“, erklärt Kantelhardt und leitet damit zu einem weiteren Punkt über: „Wir arbeiten mit ihnen auf Augenhöhe.“ Dazu gehören nicht nur die gemeinsame Qualifikation von Promovierenden und die Weiterbildung von medizinischem Personal, sondern auch die gemeinsame Forschung.
Mehr als 35 deutsche Promovierende in der Humanmedizin hat Kantelhardt in den vergangenen Jahren betreut. Sie leben vier bis acht Monate in Afrika, arbeiten dort und sammeln Daten. Außerdem sind 14 äthiopische Promovierende im Rahmen voll finanzierter Stipendien durch gemeinsame Projekte mit der Medizinischen Fakultät unterstützt worden. Sie leben und forschen hauptsächlich in Äthiopien und kommen für drei Monaten im Jahr nach Halle.
Die Projekte setzen dabei immer auf verschiedenen Ebenen an: Neben Erkenntnissen für die Versorgungsforschung ist ein wichtiges Ziel aller Maßnahmen das sogenannte „capacity building“, also der Ausbau der medizinischen Strukturen und des medizinischen Know-hows vor Ort. „Wir wollen erreichen, dass eine gute medizinische Versorgung bei Krebserkrankungen stattfinden kann – und zwar in der Breite und nicht nur an den wenigen sehr guten Universitätskliniken.“ Dazu gehören Weiterbildungen für Dutzende äthiopische Forschende und medizinische Fachkräfte in Deutschland sowie die Etablierung von Weiterbildungsangeboten vor Ort.
Evidenzbasierte Maßnahmen zu finden, die sich an den lokalen Gegebenheiten orientieren und die Qualität der Behandlung verbessern, sei in vielen Fällen gar nicht so kompliziert und nicht teuer. Das Programm der Weltgesundheitsorganisation WHO gegen Gebärmutterhalskrebs sieht zum Beispiel vor, dass 90 Prozent aller Mädchen gegen die Erkrankung geimpft werden sollen. Hier belaufen sich die Kosten auf vier US-Dollar pro Impfdosis. Auch Brustkrebs lasse sich teilweise sehr gut und kostengünstig behandeln: „Im Rahmen mehrerer Studien haben wir festgestellt, dass Brustkrebs in Äthiopien häufig eine hormonelle Komponente hat und wir hier mit einer Hormontherapie sehr gute Erfolge erzielen können.“ Die Kosten für die Behandlung, die über fünf Jahr laufen sollte, liegen bei sieben US-Dollar pro Monat.
Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der „dauerhaften Verbesserung durch Aufklärung“, wie es Kantelhardt nennt. So sollen Frauen generell für das Thema sensibilisiert und aufmerksam gemacht werden, um mögliche Anzeichen früher zu erkennen. „Auch wenn ein Knoten in der Brust nicht weh tut, kann es Krebs sein. Je eher das überprüft wird, desto besser sind die Überlebenschancen”, nennt Kantelhardt ein Beispiel. In den vergangenen Jahrzehnten sei hier bereits viel erreicht worden. „Bis in die 1990er Jahre sind Frauen teilweise mit wirklich großen Tumoren in die Klinik gekommen, weil sie die Krankheit sehr lange ignoriert oder verdrängt haben.“ Das sei heute nur noch selten der Fall.
Die Forschenden um Kantelhardt nutzen für ihre Arbeit auch das bereits seit vielen Jahren existierende Netzwerk afrikanischer Krebsregister. Darin werden zahlreiche Angaben zu Krebserkrankungen in knapp 30 Ländern gesammelt, wie das Alter, die Häufigkeit in der Bevölkerung und die absolute Anzahl von Neuerkrankungen. Anhand der Daten aus zehn Ländern in Afrika südlich der Sahara, die teilweise über 50 Jahre zurückgehen, hat Kantelhardt mit Medizin-Promovierenden untersucht, welche Therapien Frauen bei Brustkrebs erhalten haben und wie ihre Überlebenschancen waren. Die Ergebnisse waren ernüchternd: Etwa die Hälfte der Frauen brach eine Therapie zu früh ab oder erhielt eine nicht standardkonforme Behandlung.
„Die letzte Gruppe hatte im schlimmsten Fall nur die Nebenwirkungen der Medikamente, aber keine Wirkung“, sagt Kantelhardt. Die Gründe dafür sind äußerst unterschiedlich, wie Kantelhardt in einer weiteren Studie herausfand: Oftmals scheiterte die Therapie daran, dass der Zugang zu medizinischem Personal zu schwierig war, etwa aufgrund von zu langen Anreisewegen oder mangelnden Transportmöglichkeiten. Oft fühlten sich die Patientinnen, mitunter aufgrund der Nebenwirkungen, auch einfach zu krank, um die Therapie weiter durchhalten zu können.
Die Ergebnisse von Kantelhardts Forschung finden an vielen Stellen Anklang: Die von Halle aus koordinierten Konsortien berichten regelmäßig in internationalen Fachjournalen über ihre Forschung, ebenso gibt es einen intensiven Austausch mit dem äthiopischen Gesundheitsministerium und sogar der WHO: Hier steuern die Forschenden um die Gynäkologin aus Halle ihre Expertise bei der Entwicklung nationaler Krebsprogramme bei.
Sich als Forscherin aus Halle international zu engagieren, sieht Kantelhardt als ihre Verpflichtung an: „Die sozialen Verhältnisse sind auf der Welt derart ungleich, dass wir in Zukunft noch viel stärkere Migrationsbewegungen nach Europa oder in die westliche Welt allgemein erleben werden.“ Die Industrienationen hätten einen wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung. Daher sei es die Verantwortung aller, die Resilienz der Gesundheitssysteme weltweit zu erhöhen. „Das ist keine ethisch-theoretische Verantwortung, sondern eine ganz konkrete, vor der wir unsere Augen nicht verschließen können.“
Prof. Dr. Eva Kantelhardt
Institut für Medizinische Epidemiologie,
Biometrie und Informatik
Tel. +49 345 55-74166
Mail eva.kantelhardt@medizin.uni-halle.de