Auf Umwegen zum Traumberuf

25.11.2025 von Ines Godazgar in Personalia
Seit mehr als drei Jahrzehnten ist Karin Keller als Archivarin an der MLU beschäftigt. Jetzt verabschiedet sich die stellvertretende Leiterin des Uni-Archivs in den Ruhestand. Zuvor spricht sie noch einmal über frühe Karrierehürden, ihre Liebe zu historischen Quellen und den abwechslungsreichen Arbeitsalltag.
Karin Keller liebt historische Quellen. Hier hält sie im Forschungssaal des Universitätsarchivs das 1632 angelegte Wittenberger Statutenbuch in der Hand, in das unter anderem ein Horoskop zum Gründungstag der Universität Wittenberg eingebunden ist.
Karin Keller liebt historische Quellen. Hier hält sie im Forschungssaal des Universitätsarchivs das 1632 angelegte Wittenberger Statutenbuch in der Hand, in das unter anderem ein Horoskop zum Gründungstag der Universität Wittenberg eingebunden ist. (Foto: Maike Glöckner)

„Die Arbeit im Archiv erspart jedes Fitness-Studio“, sagt Karin Keller und lacht. Man hebt Aktenstapel von A nach B, klettert auf Leitern, bewegt die schweren Kurbeln der Hebeschubanlagen, steigt Treppen. „Das kann durchaus kräftezehrend sein – eine Arbeit mit eingebautem Sportprogramm."  Die frühere Geräteturnerin und Leichtathletin hat dieses „Sportprogramm“ lange an der Universität absolviert: Seit 1992 ist sie als Archivarin an der MLU beschäftigt. Zum Jahresende wird sie sich ein letztes Mal durch die Räume mit den 4.000 laufenden Meter Akten des Archivs bewegen, das sie wie ihre Westentasche kennt. Dann verabschiedet sich Karin Keller in den Ruhestand.

Die 65-Jährige, so viel wird schnell deutlich, liebt ihre Arbeit über alles. Bittet man sie, über ihren beruflichen Alltag zu erzählen, sprudeln die Worte nur so aus ihr heraus. „An einem einzigen Arbeitstag springe ich bei meinen Recherchen oft von Jahrhundert zu Jahrhundert. Diese inhaltliche und zeithistorische Breite hat mir immer besonders gut gefallen“, sagt sie etwa. Hinzu kommen die vielen wertvollen historischen Quellen, von denen sie umgeben ist: Akten aus der Gründungszeit der Universität im Jahr 1502 bis zur Gegenwart, gegliedert in 134 Bestände. Gibt es da so etwas wie ein Lieblingsstück? Karin Keller nennt die so genannten Zimelien, zu denen das Gründungsprivileg gehört und die Bulle von Papst Julius II., die Gründung und Ausstattung der Universität in Wittenberg bestätigt. Die seien schon etwas Besonderes, „und natürlich alles Unikate“. 

Doch auch spätere Bestände, zum Beispiel die Akten aus DDR-Zeiten, liegen Karin Keller am Herzen. „Ich habe diese Zeit selbst erlebt. Heute spiegeln sich die politischen Verhältnisse von damals in den Akten wider“, so Keller. Die Phrasen, die Schönfärberei, die oft furchtbare offizielle Sprache. „Wenn es nicht so ernst gewesen wäre, könnte man heute über vieles einfach lachen", meint sie. 

Was sie ebenfalls an ihrem Job mag: die intensiven Recherchen. Bevor Akten kassiert werden – also weggeworfen –, wird alles sorgfältig durchgesehen. Dabei wird zum Beispiel geprüft, ob jemand zwischenzeitlich berühmt geworden ist oder ob andere Hinweise dafür sprechen, eine Akte nicht zu kassieren. „Hier habe ich als Archivarin auch eine Verantwortung", betont Keller. All das ist wichtiges Fachwissen, das sie während ihrer Laufbahn auch an insgesamt vier Auszubildende weitergegeben hat. „Da musste ich manchmal auch ein bisschen streng sein", gesteht sie, „denn ein Archiv ist wie ein kompliziertes Netzwerk. Dessen Bestände muss man sehr gut kennen."

Die Faszination für Archive packte Karin Keller übrigens bereits in der Jugend. Während eines Schüler-Praktikums im Staatsarchiv ihrer Heimatstadt Merseburg sah sie sich oft die aufwändig gestalteten Originale alter Schriften an. „Die historischen Quellen zogen mich magisch an“, erzählt sie. Und so stand ihr Berufswunsch frühzeitig fest.

Doch zunächst sah es nicht danach aus, dass aus der begeisterten Schülerin eine ausgebildete Archivarin werden könnte. Trotz guter Noten wurde ihre Studienbewerbung für das Fach Archivwissenschaften Ende der 1970er Jahre von der Berliner Humboldt-Universität ohne Begründung abgelehnt. In einem so genannten Umlenkungsgespräch wurde sie zu einem Lehramtsstudium bewegt. Und so studierte Karin Keller ab 1979 zunächst die Fächer Deutsch und Geschichte in Leipzig. Sie beendete die Ausbildung, arbeitete danach ein Jahr in einer Schule und wusste: „Das ist auf Dauer nichts für mich.“

Doch wer in der DDR einmal im System der „Volksbildung“ gelandet war, sei nicht so leicht wieder herausgekommen, erinnert sie sich. Karin Keller, inzwischen Mutter einer Tochter, zeigte Eigeninitiative: Sie kündigte und blieb zunächst einige Zeit zu Hause. Erst danach konnte sie sich als Bewerberin aus der „nichttätigen Bevölkerung“, wie es damals offiziell hieß, neu orientieren und auf Stellen bewerben. Schließlich wurde sie in der damaligen Technischen Hochschule Merseburg fündig. Dort hatte man im Archiv eine Stelle für sie. 

Im September 1984 fing sie an und wollte schnell mehr: Sie qualifizierte sich nebenberuflich in Magdeburg zur Archiv-Assistentin weiter – „damit hatte ich endlich die Verknüpfung zwischen Theorie und Praxis". 1985, ihr im gleichen Jahr geborener Sohn war noch ein Säugling, wurde die Stelle des Archivleiters an der Technischen Hochschule frei. Karin Keller zögerte nicht, nahm fortan die Hilfe der vor Ort wohnenden Oma für die Kinderbetreuung in Anspruch und wurde selbst Chefin. „Ich war glücklich, obwohl die Akten dort nicht so alt waren", erinnert sie sich, denn der Bestand im Archiv der Merseburger Hochschule reichte nur bis ins Jahr 1954 zurück.

1992 kam Karin Keller schließlich zum Archiv der Martin-Luther-Universität und damit auch zu den von ihr so geschätzten historischen Quellen und Akten. Doch wie überall war die frühe Nachwendezeit auch im Uni-Archiv der MLU oft geprägt von Übergängen, Provisorien und Unsicherheiten. Das betraf auch den Standort. Anfangs noch im Weidenplan untergebracht, musste das Archiv 1996 innerhalb von drei Wochen umziehen. Der neue Standort der Einrichtung war ein sanierungsbedürftiges Haus in der Pfännerhöhe, eigentlich eine Notlösung, „in der wir viel improvisieren mussten“. Karin Keller erinnert sich an feuchte Wände, wenig Raum und sogar an Ungeziefer. 

Erst 2017 konnte das Archiv an seinen jetzigen Standort in der Dachritzstraße in Halles Innenstadt umziehen. Die modernen und freundlichen Räume dort seien „der absolute Traum", schwärmt Karin Keller. Trotz ihrer nun hervorragenden Arbeitsbedingungen freut sie sich auf ihren Ruhestand. Angst davor, in ein Loch zu fallen, hat die Archivarin nicht: „Ich habe in meinem Wohnort Merseburg viele Freunde, einige kenne ich noch aus der Vorschulzeit.“ Außerdem sei es schön, endlich mehr Zeit für die Enkel zu haben und „auch mal Dinge in Ruhe erledigen zu können“.

Karin Keller geht mit einem guten Gefühl. Mehr als vier Jahrzehnte nach der ersten abgelehnten Bewerbung kann sie heute zufrieden zurückblicken: „Zum Schluss bin ich doch noch das geworden, was ich immer werden wollte", sagt sie mit einem Lächeln.

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