Karantäne für den Könich

04.05.2022 von Matthias Münch in Im Fokus, Wissenschaft
Halle ist ein Zentrum der deutschen Orthoepieforschung, der Lehre zur Standardaussprache: Seit 1964 hat die MLU drei Wörterbücher dazu herausgegeben. Jetzt wird das Deutsche Aussprachewörterbuch digitalisiert – und die korrekte Sprache nicht nur hörbar, sondern auch sichtbar gemacht.
Alexandra Ebel (links) und Susanne Voigt-Zimmermann mit den Objekten, die für die Digitalisierung genutzt werden: das gedruckte Buch und ein Schnittmodell des Kopfs.
Alexandra Ebel (links) und Susanne Voigt-Zimmermann mit den Objekten, die für die Digitalisierung genutzt werden: das gedruckte Buch und ein Schnittmodell des Kopfs. (Foto: Maike Glöckner)

Es gibt Momente, in denen die richtige Aussprache von Wörtern stärker ins Bewusstsein dringt. Corona hat ein solches Phänomen hervorgebracht, denn nicht wenige fragen sich, warum man bei einer Infektion in „Karantäne“ muss. Nicht etwa in „Kwarantäne“, wie es ja die sonstigen im Deutschen bekannten Begriffe nahelegen würden, die mit „Qua“ beginnen – Qualle, Quark, Qualität oder Quadrat. „Der Terminus geht auf das Mittelalter zurück, als die Besatzung von Schiffen, die in den Häfen des Mittelmeerraums anlegten, sich zunächst für vierzig Tage isolieren musste“, erklärt Dr. Alexandra Ebel von der Abteilung Sprechwissenschaft und Phonetik. „Aus dem lateinischen quarranta für vierzig wurde im Altfranzösischen caranteine, und diesen Begriff samt Aussprache haben die Deutschen später übernommen.“

Die Abteilung Sprechwissenschaft und Phonetik ist eine der profiliertesten Einrichtungen der deutschen Orthoepieforschung. Bisher hat die MLU drei Aussprachewörterbücher herausgegeben, das letzte 2010 mit einem Umfang von rund 1.000 Seiten. Vor vier Jahren haben die Forschenden zudem mit einem ehrgeizigen Projekt begonnen: Sie wollen das Deutsche Aussprachewörterbuch in digitalisierter Form mit Online-Zugang anbieten und noch im Laufe dieses Jahres eine erste Version freischalten. „Wir können dabei auf die rund 130.000 Stichwörter zurückgreifen, die aus den Vorarbeiten bereits elektronisch vorliegen“, erklärt Alexandra Ebel. „Zusätzlich erweitern wir die Datenbank kontinuierlich durch unsere tägliche Forschung.“

Den Grundstein für orthoepische Forschungen legte Ende des 19. Jahrhunderts der Greifswalder Hochschullehrer Theodor Siebs – er wollte vor allem eine normierte Standardaussprache für die Theaterbühnen schaffen. 1953 erteilte das Staatssekretariat für das Hochschulwesen der DDR der Jenaer Universität einen Forschungsauftrag über die Normierung der deutschen Allgemeinsprache, 1959 wurde das Projekt vom Institut für Sprechkunde und Phonetische Sammlung der MLU übernommen. „Die orthoepische Forschung in Halle hat einen konzeptionell neuen Ansatz gewählt“, sagt Prof. Dr. Susanne Voigt-Zimmermann, Sprecherin der heutigen Abteilung. „Als Grundlage der Aussprachekodifizierung sollte fortan keine elitäre Normierung, sondern die Sprechrealität gelten. Wir legen also nicht fest, wie gesprochen werden soll, sondern analysieren, wie gesprochen und was allgemein akzeptiert wird.“ Das unterscheidet die Arbeit bis heute von anderen Werken.

Gegenstand für das erste, 1964 herausgegebene Aussprachewörterbuch war die Sprache in Radio und Fernsehen. Das zweite Wörterbuch von 1982 unterschied zusätzlich verschiedene Ebenen der Standardaussprache: die Aussprache der Rezitation und des festlichen Vortrags, die Aussprache in der Lesung von Manuskripten und von schöngeistiger Prosa und die Aussprache des ruhigen, sachlichen Gesprächs. Selbst innerhalb der Ebenen lassen sich gravierende Änderungen im Zeitverlauf feststellen: „Schauen wir uns nur einmal die Reden im Bundestag an – die durchschnittliche Sprechgeschwindigkeit hat sich in den vergangenen 70 Jahren nahezu verdoppelt“, sagt Susanne Voigt-Zimmermann. „Das geht zwangsläufig mit einer verminderten Präzision der Artikulation einher.“

Für die Ausgabe von 2010 sind zudem rund 1.700 Personen mit unterschiedlichem sozialen Hintergrund und aus allen Sprachlandschaften der Bundesrepublik einbezogen worden. Ihnen wurden Audiomitschnitte aus Nachrichtensendungen, Talkshows und Interviews vorgeführt. Die Befragung bestätigte: Die Anforderungen an die Aussprache unterscheiden sich. Während von den Nachrichtensprechenden eine überregional konsistente Aussprache erwartet wurde, wurden etwa bei Talkshow-Moderationen auch regionale Einflüsse akzeptiert. Susanne Voigt-Zimmermann: „Ein prominentes Beispiel ist die Aussprache des „ig“ am Ende eines Wortes, beispielsweise bei König. Im süddeutschen Raum sagt man zumeist ,Könik‘, in Norddeutschland überwiegend ,Könich‘, letzteres hat sich in der Standardlautung durchgesetzt.“ Auffällig seien, so die Sprechwissenschaftlerin, auch Veränderungen in der Akzentuierung – Wörter wie „direkt“ oder das „Durcheinander“ würden immer häufiger auf der ersten Silbe betont, statt wie üblich auf der zweiten beziehungsweise der dritten. „Das scheint gerade irgendwie hipp zu sein.“

Die Vorteile des nun entstehenden Online-Wörterbuchs sind vielfältig: Erstens können die Nutzenden komfortabel über ein Suchfeld zu den gewünschten und gegebenenfalls verwandten Wörtern gelangen. Zweitens ist eine Datenbank nicht auf einen bestimmten Umfang beschränkt, kann permanent aktualisiert werden und ermöglicht die Verknüpfung mit zahlreichen Zusatzinformationen, etwa zur Entstehungsgeschichte von Begriffen oder zu Aussprachevariationen in regionalen Kontexten. Und drittens ist die Zielgruppe – Schaffende aus Sprechberufen, Studierende der Germanistik, Lernende von Deutsch als Fremdsprache – nicht mehr auf die Entschlüsselung des Internationalen Phonetischen Alphabets (IPA) angewiesen. Denn im Gegensatz zu gedruckten Wörterbüchern kann die Aussprache von Wörtern und ihrer Varianten in einer Datenbank als Audiodatei direkt hörbar gemacht werden.

Von einer realen Person werden die Wörter jedoch nicht vertont – das wäre angesichts der schieren Größe des Korpus nicht umsetzbar. Außerdem soll die Aussprache im Zeitverlauf nicht variieren, was durch Alterung der Stimme oder einen personellen Wechsel der Fall wäre. „Bei der Auswahl der Software haben wir jedoch großen Wert darauf gelegt, dass die digitale Sprache möglichst natürlich klingt“, sagt Alexandra Ebel. Was die sinnliche Erfahrung betrifft, gehen die Forschenden sogar noch einen Schritt weiter: Gemeinsam mit der Technischen Universität Dresden arbeiten sie an der Visualisierung der korrekten Aussprache. An einem Schnittmodell des menschlichen Kopfs können Nutzende dann die Bewegungen der Gesichtsmuskulatur, der Lippen, des Unterkiefers, der Zunge und des Gaumensegels verfolgen – und das sogar aus verschiedenen Perspektiven.

Prof. Dr. Susanne Voigt-Zimmermann
Institut für Musik, Medien- und Sprechwissenschaften
Tel.: +49 345 55-24467
E-Mail: susanne.voigt-zimmermann@sprechwiss.uni-halle.de

Dr. Alexandra Ebel
Institut für Musik, Medien- und Sprechwissenschaften
Tel.: +49 345 55-24476
E-Mail: alexandra.ebel@sprechwiss.uni-halle.de

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Sprechwissenschaft

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