Eine Uni – ein Buch: „Erinnern als ethische Ressource“
„Wissenschaft ist keine rein intellektuelle Tätigkeit, sondern sie muss den ganzen Menschen berühren.“ Das, was Prof. Dr. Natascha Ueckmann – gemeinsam mit Dr. Steffen Hendel Initiatorin des Projekts im Rahmen des Wettbewerbs „Eine Uni – ein Buch“ – in ihren Einführungsworten zur Veranstaltung sagte, durchzog den gut zweistündigen Abend: Er berührte. Und er brachte zum Nachdenken. Das lag durchaus an Charlotte Wiedemann selbst, die in der Aula einem oft still lauschenden Publikum Passagen aus ihrem Buch vorlas, diese immer wieder sensibel weitererzählte, einordnete und auch mit dem togoischen Wissenschaftler Dr. Kokou Azamede diskutierte. Auf die Frage, wie denn ihr Buch funktioniere, sagte sie: „Das liegt bei jedem Einzelnen, der es liest. Es soll der Anfang sein, selbst weiterzudenken.“
Rektorin Prof. Dr. Claudia Becker hatte zuvor bereits in ihrem Grußwort festgestellt, dass bei der Lektüre des Buches von Wiedemann etwas in Bewegung komme, auch sie ihr eigenes Erinnern reflektiert habe. Die Rektorin fasste das Thema für die über 500 Jahre alte MLU schließlich weiter: „Auch in unserer Universität haben wir viele Anknüpfungspunkte zur Erinnerung in Komplexität und zur Komplexität von Erinnerungskulturen, sowohl in Bezug auf Menschen, die von hier aus in die Welt gegangen sind, als auch auf Menschen, die aus der Welt zu uns gekommen sind, mit all ihren Kontexten, ihrem Erleben, ihren Erinnerungen und ihrem Umgang damit.“
Anliegen von Wiedemanns Buch mit dem Untertitel „Holocaust und Weltgedächtnis“ ist ein Umdenken in der deutschen und europäischen Erinnerungskultur. Ein Thema, das sie schon sehr lange beschäftige, sei die „Abgrenzung von nichteuropäischen Erfahrungen aus dem Kanon dessen, was wir als menschheitsgeschichtlich bedeutsames Wissen ansehen.“ Dafür wurde sie, die damit auch für eine gleichberechtigte Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Kolonialgeschichte plädiert, öffentlich heftig angegriffen. „Dabei geht es gar nicht um ein Gegeneinanderstellen von Erfahrungen. Es geht darum, wie wir Ausgrenzung und Geringschätzung überwinden und zu einem inklusiveren Bild gelangen.“
Wiedemanns Buch lässt auch die Parallelität von Ereignissen sprechen. Das Kapitel „Nürnberg und die Grenzen des Universalismus“, aus dem sie auch an diesem Abend las, zeigt, dass noch während zwischen 1945 und 1949 die Nürnberger Prozesse liefen, europäische Staaten Verbrechen an der Zivilbevölkerung ihrer Kolonien, zum Beispiel in Algerien und Indonesien begangen haben, die „nach den Kriterien des Nürnberger Statuts gleichfalls Crimes against Humanity sind: ‚Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen…‘“ Die Hoffnungen, die sich mit dem Kriegsende in Europa verbunden haben, wurden enttäuscht, das Streben nach Souveränität wurde in Asien und Afrika mit anderen Maßstäben gemessen und blutig erstickt. Das wirke bis heute in diesen Völkern nach.
Aber Wiedemann sieht auch das Holocaust-Gedenken in Gefahr, das sei besorgniserregend. „Ich habe das Gefühl, dass eine Mauer auf uns zukommt, dass das Erinnern an den Nationalsozialismus stark gefährdet ist. Ich sehe, dass es durch den russischen Imperialismus und den Ukraine-Krieg eine Entwicklung gibt, in der sich das beschleunigt.“ Wie sie in all der Fragilität dann so ein Buch schreiben könne, sei sie oft gefragt worden. „Meine Antwort ist: Gerade deshalb.“ Es gehe doch insgesamt darum, Erinnern als ethische Ressource zu begreifen, als einen demokratischen Prozess.
Es waren viele leise Töne an diesem Abend; auch auf Kritik antwortete Charlotte Wiedemann eher sanft: „Es ist ein persönliches Buch.“ Es habe eine Resonanz gegeben, mit der sie nicht gerechnet habe, auf der einen Seite überwältigend positiv, auf der anderen Seite stehe feindselige Kritik – formuliert, wie sie sagte, in einer falschen Sprache für diese Debatte. „Offenbar werde ich als jemand gesehen, den man auch angreifen kann“, sagte Wiedemann. „Oft habe ich das Gefühl, dass insbesondere Menschen, die mich sehr scharf kritisieren, das Buch nicht gelesen haben.“ Es gehe eben nicht um Konkurrenz oder Rivalität, auch nicht im Erinnern. Das komme nicht vor in ihrem Buch.
Dr. Kokou Azamede, Grimm-Preisträger des DAAD, Historiker und Germanist von der Universität Lomé in Togo, brachte in der sich anschließenden Diskussion weitere Aspekte ein. Das Buch sei auf großes Interesse in Togo gestoßen, weil es sich mit Kolonialgeschichte beschäftige, ein in Deutschland im Schatten stehendes Thema. Auch wenn es sich nicht explizit mit Togo, einer ehemaligen deutschen Kolonie, befasse.
Wer sich mit der Kolonialgeschichte Togos beschäftigen wolle, erfuhren die Zuhörer in der Aula dann, müsse Deutsch lernen, um die Quellen lesen zu können. Und Sütterlinschrift, in der diese Quellen geschrieben sind. Die eigene Geschichte – anders nicht zugänglich, auf alle Fälle nicht in der eigenen Sprache. Auch deshalb sei die Germanistik groß in dem afrikanischen Land, es ist die größte südlich der Sahara, erklärte Steffen Hendel.
Die Grenzen des eigenen Wissens werden auch an dieser Stelle nicht Wenigen im Publikum bewusst geworden sein. Es ging insgesamt oft um Wissen und eigentlich noch mehr um Nichtwissen in diesen zwei Stunden. Ein Gedanke, der auf dem Podium am Ende nach vielen Fragen aus dem Publikum formuliert wurde, ist eine „Restitution des Wissens“ als ersten Schritt der Annäherung. Kokou Azamede formulierte es so: „Solange wir die Geschichte der anderen in Bezug auf die eigene nicht kennen, können wir Menschen nicht in der richtigen Art und Weise wahrnehmen.“
Auf die weiteren Termine und die Fortführung des Projekts zum Buch von Charlotte Wiedemann an der MLU darf man nach diesem Abend nun sehr gespannt sein.
„Eine Uni – ein Buch“ an der MLU
Das Projekt „Erinnerung in Komplexität“, das sich mit dem Buch „Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis“ von Charlotte Wiedemann befasst, ist eines von neun Projekten an deutschen Hochschulen, die im Rahmen des Wettbewerbs „Eine Uni – ein Buch“ des Stifterverbands und der Klaus Tschira Stiftung mit 10.000 Euro gefördert werden. Bis zum Sommer 2024 sind zahlreiche Veranstaltungen an der MLU und in der Stadt Halle geplant, die sich mit dem Thema Erinnerungskultur befassen.
Mehr zum Projekt: https://blogs.urz.uni-halle.de/erinnerunginkomplexitaet/