„Die Liste der Innovationen ist noch viel länger“
Gibt es einen Entdecker oder Erfinder in Ihrem Buch, den Sie gern kennengelernt hätten?
Dr. Florian Steger: Das Buch ist weniger auf Personen ausgerichtet, im Vordergrund stehen die Erfindungen, Innovationen und Entdeckungen. Mir war es wichtig, kein Buch „der großen Männer“ zu schreiben, sondern ein Buch „des großen Neuen“. In einem modernen Universitätsbetrieb steht selten nur eine Person hinter einer Innovation. Meist sind sehr viele daran beteiligt.
Bei welcher Innovation wären Sie gern dabei gewesen?
Das wäre die Zeit um 1700. Eine revolutionäre Zeit an dieser Universität, auf die damals ganz Europa geschaut hat. Als Arzt interessiert mich besonders die damalige Entwicklung in der Medizin. Als Friedrich Hoffmann und Georg Ernst Stahl die Medizin reformiert haben und neue Konzepte nach außen getragen wurden – da wäre ich gerne dabei gewesen.
Entdeckungen, Erfindungen und Innovationen – warum haben Sie diese drei Aspekte zusammengeführt?
Unsere Leitfrage war: Was ist an Innovationskraft in Halle zu finden? Wenn Sie sich auf Entdeckungen beschränken, wäre die Auswahl sehr naturwissenschaftlich geprägt. Das Buch sollte aber darüber hinaus gehen, da auch ein pädagogisches Konzept etwas Neues sein kann. Wir wollten zeigen, dass es natürlich auch eine geistesgeschichtliche Innovationskraft gibt und Medizin-, Naturwissenschaft-, Technik- und Geistesgeschichte für Halle gleichermaßen prägend sind.
15 hallesche Innovationen aus der Zeit von 1700 bis heute stellen Sie in Ihrem Buch vor. Wie haben Sie diese ausgewählt?
Das war natürlich schwierig. Die Wirkungsgeschichte war für mich dabei von zentraler Bedeutung. Ich wollte sehen, wie diese Innovationen nachgewirkt haben. Das lässt sich heute, mit bis zu 300 Jahren Distanz, besser beurteilen. Deshalb kommen im Buch auch nicht nur bekannte Hallenser vor. Wilhelm von Drigalski kennen vielleicht viele noch nicht. Er war ein wichtiger Vordenker der Hygiene und eine zentrale Figur bei der Entwicklung der öffentlichen Gesundheitsversorgung in Halle. Mit seinem Hygienekonzept konnte er die Sterblichkeit von Kindern und Jugendlichen senken. Ich schreibe auch über Beispiele, die mich persönlich sehr interessieren oder Beispiele, die sehr gut erschließbar waren. Die Liste der halleschen Innovationen ist noch sehr viel länger.
Jede Entdeckung und Erfindung hat ihre eigene Geschichte. Sind Ihnen trotzdem Parallelen aufgefallen?
Fortschritt in der Wissenschaft unterliegt in der Regel dem Zufall. Das kennen wir aus der Psychopharmakologie sehr gut – die meisten Substanzen sind zufällige Nebenprodukte. Erfinder und Entdecker werden sich selten vorgenommen haben: Heute erfinde ich etwas. Johann Christian Reil war sicherlich nicht bewusst, was er für die Versorgung von psychisch Kranken geleistet hat. Er war, ohne es zu wissen, ein Vordenker sozialpsychiatrischer Methoden. Was außerdem auffällt: Kaum einer dieser Pioniere ist mit hohen Preisen geehrt worden. Fritz Jahr zum Beispiel kennt außerhalb von Halle kaum jemand. Dabei ist er eine Figur, die für die Bioethik prägend war wie kaum eine andere. 1926 hatte er den Begriff „Bioethik“, der heute weltweit diskutiert wird, schon definiert. Auffällig ist auch, dass wir bei unserer Recherche kaum Frauen gefunden haben. Ihnen wurde der Zugang zur Universität damals erschwert. Sie hatten erst viel später die Möglichkeit, in Hierarchien nach oben zu kommen, um dann auf sich aufmerksam machen zu können.
Wie lässt sich historisch nachvollziehen, wie eine bahnbrechende Entdeckung oder Erfindung zustande kam?
Das ist ganz unterschiedlich. Teils haben wir Archivarbeit geleistet, teils konnten wir auf aktuelle Literatur zurückgreifen. Teilweise sprachen wir auch mit Zeitzeugen. Bei Händel haben wir zum Beispiel die aktuelle Literatur unter dem Fokus der Wirkungsgeschichte ausgewertet. Anders war es bei Fritz Jahr, zu dem ich letztes Jahr eine Tagung veranstaltet habe. Ich konnte auf diese Vorarbeit zurückgreifen und Funde aus verschiedenen Archiven einbeziehen. Rudolf Millner, der die Ultraschalltechnik in der DDR entwickelt hat, ist wiederum eine der zeitgenössischen Persönlichkeiten, zu denen wir Zeitzeugen befragen konnten.
Was könnte Ihrem Buch folgen?
Man könnte die Liste der Innovationen fortsetzen. Da gibt es noch so viele mehr, dass man eine ganze Enzyklopädie füllen könnte. Ich glaube, dass das Projekt nicht in der Hand eines Einzelnen bleiben sollte. Schön wäre, wenn daraus ein interdisziplinäres Projekt würde, an dem sich Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Fakultäten beteiligen. Auch die Stadt Halle sollte weiterhin einbezogen werden. Und wir sollten uns nicht nur auf Halle konzentrieren. Anhand des Themas kann man auch sehr gut zeigen, wie die mitteldeutschen Universitäten Halle, Jena und Leipzig in ihrer Entwicklung miteinander verbunden sind.
„Ein Buch des großen Neuen“
15 Entdeckungen, Erfindungen und Innovationen unterschiedlicher Disziplinen und Epochen hat Prof. Dr. Florian Steger in seiner Publikation zusammengetragen. Die Beispiele zeigen eindrucksvoll, wie eng Halles Wissenschafts- und Stadtgeschichte seit 300 Jahren miteinander verknüpft sind. Aus historischer Perspektive werden in diesem Band Innovationen aus den Bereichen Medizin, Musik, Pädagogik, Philosophie sowie den Technik- und Naturwissenschaften vorgestellt. Zahlreiche ganzseitige Abbildungen komplettieren die Ausführungen.
Steger, Florian: „Neues aus Halle“: Entdeckungen, Erfindungen und Innovationen, Universitätsverlag Halle-Wittenberg, 296 Seiten, Halle 2013, 29,80 Euro, ISBN: 978-3-86977-087-1