Die Vorlesung von morgen?

23.01.2013 von Corinna Bertz in Im Fokus
Nachmittags im Hörsaal: Der Dozent ist bei Folie Nummer 43 angelangt. Seit einer Stunde steht er vorm Laptop und referiert. Ein Drittel der Zuhörer scheint seinen Worten noch zu folgen. Der Rest blickt ins Smartphone oder ist anderweitig beschäftigt. Ein Schreckens-Szenario für jeden Didaktiker. Die klassische Vorlesung gilt als hoffnungslos überholt. Biologie-Professor Martin Lindner hat das alte Format deshalb radikal verändert. Scientia halensis hat seine „Vorlesung“ besucht.
Professor Martin Lindner will seinen Studierenden vor allem eines lehren: Das Nachdenken - in diesem Fall über den Unterricht, den sie später einmal geben werden.
Professor Martin Lindner will seinen Studierenden vor allem eines lehren: Das Nachdenken - in diesem Fall über den Unterricht, den sie später einmal geben werden. (Foto: Maike Glöckner)

„Unsere Studierenden haben ein riesiges Potenzial. Und das verplempern wir mit 90-Minuten-Ansprachen? Die Zeiten sind vorbei!“ Beim Thema Vorlesung gerät Martin Lindner in Fahrt. Komplett unsinnig sei so ein Frontalvortrag. Dabei will der Biologie-Didaktiker niemandem auf die Füße treten. „Es gibt tatsächlich Lehrende, bei denen Sie von der ersten bis zur letzten Minute mit offenem Mund in der Vorlesung sitzen. Aber die Mehrheit ist das nicht.“ Im Gespräch mit Studierenden hört er immer wieder von den klassischen Frontalvorlesungen mit „Alleinunterhaltern“.

Ein anderes Bild bietet sich montags im Hörsaal hinterm Biologicum: Ein paar Studierende blicken konzentriert in ihre Laptops, andere diskutieren mit ihren Nachbarn halblaut darüber, wie man das Interesse von Schülern am Unterricht messen könnte. Hier und da wird fleißig getippt. Lindner läuft durch die Reihen, um Fragen zu klären oder eine Diskussion zu begleiten. Nur die hörsaaltypischen Sitzreihen weisen noch darauf hin, dass es sich hier um eine „Vorlesung“ handelt.

So stellen sich Studierende gute Lehre vor
So stellen sich Studierende gute Lehre vor

Zukünftige Biologielehrerinnen und -lehrer im dritten Semester werden in dieser Veranstaltung in die „Grundlagen der Biologiedidaktik“ eingeführt. Zum Einstieg hat der Professor heute aus einem Elternbeschwerdebrief zitiert: „Unser Sohn folgt nur dann dem Unterricht, wenn der auch interessant ist.“ Wie also kann ich als Lehrer den Schüler für mein Fach interessieren und möglichst sogar begeistern? So lautet die Kernfrage der Vorlesung zu „Interesse und Motivation“.

Knapp zehn Minuten dauert Lindners Eingangsreferat. Er erläutert, warum das Thema für jeden Bio-logielehrer ganz entscheidend ist („Das Interesse an Biologie nimmt mit steigender Klassenstufe ab!“) und welche Theorien und Lösungsansätze die Forschung bietet. In den darauffolgenden 50 Minuten überlässt er seine Zuhörer sich selbst. Ausgestattet mit Laptop und per USB-Stick verteilten Forschungsberichten, Statistiken, Fragebögen und Linksammlungen sollen die Studenten in dieser Arbeitsphase vier Fragen beantworten: Wo liegt mein Interesse als Lehrer? Wie kann ich Interesse messen? Wie kann ich einen motivierenden Unterricht gestalten? Wie kann ich die Schüler motivieren?

Wenig Zeit für viele Fragen. Das ist vom Didaktiker so beabsichtigt: „Ich möchte, dass die Studierenden am Thema auch weiterarbeiten.“ Im Prinzip ist es ihm fast egal, welche Inhalte die Studierenden sich in dieser knappen Stunde erarbeiten − solange sie sich mit dem Thema der Vorlesung auseinandersetzen. Vor allem sollen sie eines lernen: „Das Nachdenken − in diesem Fall über den Biologieunterricht, den sie später als Lehrerin oder Lehrer einmal geben werden. Denn dadurch lernen sie auch, zu reflektieren.“

Diese Reflektionsfähigkeit sei später entscheidend. „Wenn ich als Lehrer vor der Klasse stehe, muss ich meinen gesamten Denkapparat anschmeißen, um auf eine komplexe Situation reagieren zu können. Dazu muss ich in der Lage sein, mich aus der aktuellen Situation quasi herauszubeamen und gedanklich auf eine höhere Ebene zu begeben, um die eigene Lage von oben analysieren und steuern zu können.“

Die Hörer seiner Vorlesung kennt Lindner erst seit fünf Wochen. Während der Arbeitsphase will er sie im direkten Gespräch besser kennenlernen. Er wechselt zwischen den Sitzreihen, erzählt von seinen Berufserfahrungen als Lehrer oder berichtet aus aktuellen Forschungsprojekten. Diskussionen und eigenständiges Arbeiten am Rechner – in dieser Vorlesung soll beides möglich sein. Digitale Medien sind dabei aus seiner Sicht essentiell. Jeder im Hörsaal arbeitet mit dem privaten oder einem institutseigenen Laptop.

Gewöhnungsbedürftig? Ja! Langweilig? Nein!

Prof. Lindner und das Tablet
Prof. Lindner und das Tablet

Mitte des Semesters holt der Biologe das erste Mal per E-Mail Feedback ein. „Das sind gezielte, hilfreiche Rückmeldungen, die ich mir zu Herzen nehme“, sagt der Professor, der vor drei Jahren von Kiel nach Halle gewechselt ist. Die Zusammenarbeit mit den Studierenden sei an der Martin-Luther-Universität hervorragend.

„So habe ich das noch nie erlebt“, meint er anerkennend. Dass es in anderen Fächern bei Vorlesungen mit vielen hunderten Studierenden zum Teil ganz anders aussieht, ist ihm bewusst. Gute Lehre mit über 70 Leuten in der Veranstaltung hält der Didaktiker für unmöglich. „In 15 Semesterwochenstunden kann ich 70 Menschen per Namen kennenlernen – und das ist mein Ziel.“ Bei Veranstaltungen mit 200 und mehr Studierenden könne man weder zwischen Studierenden und Dozenten noch unter den Studenten Kontakt herstellen.

Am Ende der Arbeitsphase hat kaum ein Student alle vier gestellten Aufgaben vollständig erfüllt. Anstatt über die Ergebnisse zu diskutieren, setzt Martin Lindner in den verbleibenden 20 Minuten seine eigene Präsentation fort. Für die meisten Studenten ist das gewöhnungsbedürftig. „Ich hatte noch keine Veranstaltung in dieser Form“, sagt ein Lehrämtler. „Ob es so besser ist, wird sich erst langfristig zeigen.“ Seine Kommilitonen äußern sich ähnlich verhalten.

Einig ist sich die Gruppe vor allem in einem Punkt: „Langweilig wäre es, wenn er alles selbst vortragen würde.“ „Noch ist das eine Werkstatt, da fallen Späne“, sagt auch der Dozent, der die Veranstaltung seit drei Semestern durchführt und fortwährend an ihrer Verbesserung arbeitet. Für gewöhnlich schließt er die Vorlesung mit einer kurzen Reflektion seitens der Studierenden: Was habe ich heute gelernt? Wo will ich weiterarbeiten? Was konnte ich aus den Texten mitnehmen? Diesen Teil hat der Didaktiker heute vergessen.

Stattdessen erfahren die angehenden Lehrer von ihrem Dozenten noch einmal in wenigen Sätzen, wie man das Interesse am Unterricht am besten fördert und die Motivation seiner Schüler steigert. Kompetenzerleben, Autonomie und soziale Eingebundenheit seien die entscheidenden Faktoren.

Auf die Schule angewendet kann das zum Beispiel heißen: Der Unterricht stellt einen Bezug zur Praxis her, die Schüler werden selbst aktiv, arbeiten in Gruppen und können selbstständig Medien einsetzen. Wie diese Aspekte in eine Vorlesung integriert werden können, hat Lindner an diesem Tag demonstriert.

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