Politik im Klassenzimmer

18.02.2019 von Tom Leonhardt in Studium und Lehre
Wie politisch dürfen Lehrerinnen und Lehrer in ihren Klassenzimmern sein? Ab wann wird die Meinungsbildung eingeschränkt? Welche Aussagen von Schülerinnen und Schülern sind legitim, welche nicht? Prof. Dr. Andreas Petrik lehrt und forscht an der Uni Halle zur Didaktik der Sozialkunde und zur politischen Bildung. Im Interview spricht er über neue Herausforderungen für angehende Lehrerinnen und Lehrer.
Ein Klassenzimmer in einer Schule - wie viel Politik darf hier sein?
Ein Klassenzimmer in einer Schule - wie viel Politik darf hier sein? (Foto: Gerhard Seybert/Fotolia)

Welche Rolle haben Meinungsprozesse in einer demokratischen Gesellschaft?
Andreas Petrik: Sie sind der Motor der gesellschaftlichen Weiterentwicklung – so ist Demokratie entstanden und heute wird der Status von Demokratien daran gemessen, ob Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt gegeben sind und ob die daraus unvermeidlich entstehenden Konflikte friedlich ausgetragen werden.

Nimmt die Schule hier eine Sonderrolle ein?
Meinungsbildungsprozesse passieren häufig nicht bewusst. Man wird zum Beispiel in ein soziales Milieu hineingeboren, das bestimmte soziale Werte lebt. Circa 80 Prozent der Jugendlichen orientieren sich politisch an ihren Eltern. Schule hat die Aufgabe, diesen Prozess bewusst zu machen und die Grundlage für eigenständig begründete Werte zu liefern. Schülerinnen und Schüler sollen lernen, gegenläufige Werte anzuerkennen. Nur so kann Schule verhindern, dass Jugendliche sich verbal oder körperlich die Köpfe einschlagen, weil sie denken, jeder müsste ihre Meinung teilen. Auf politikdidaktisch heißt das die „Illusion der Homogenität“. Jugendliche sollen den Pluralismus der Gesellschaft erfahren.

Kürzlich fand eine Tagung zu politischer Bildung statt, die Sie gemeinsam mit der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt organisiert haben. Sind die Meinungsbildungsprozesse an Schulen besonders gefährdet?
Das waren sie immer schon. Zum Beispiel durch die persönliche Blase, in der jeder von uns steckt. Das ist nicht nur die familiäre Herkunft. Auch soziale Medien funktionieren ganz ähnlich. Wir schicken unsere Gedanken in eine Blase. Jetzt passiert das technisch unterstützt. Dazu kommt, dass wir in Sachsen-Anhalt auch von Seiten der Rechtspopulisten, wie der AfD, Angriffe auf Meinungsbildungsprozesse zu beklagen haben. Unter dem Mantel der Demokratie werden pluralistische Werte wie Multikulturalismus oder Antirassismus attackiert, die der AfD nicht passen, indem sie zum Beispiel versucht, in diese Richtung orientierten Organisationen und Vereinen Gelder zu entziehen. Auf der Tagung haben wir Berichte gehört, wie sich der öffentliche Druck auf diese Organisationen verstärkt hat. Migranteninitiativen etwa wussten von Fällen zu berichten, bei denen die AfD versucht hat, ihnen ihre Arbeit zu erschweren.

Andreas Petrik
Andreas Petrik (Foto: Leo Hagen)

Ergeben sich daraus im Unterricht neue Grenzsituationen für Lehrerinnen und Lehrer?
Es gibt Schwierigkeiten, die man beobachten kann. Vielen Lehrerinnen und Lehrern fällt es schwer, die verschiedenen politischen Grundpositionen klar zu unterscheiden. Es gibt legitime demokratisch-konservative Positionen, die eine Begrenzung von Migration fordern – das ist nicht gegen das Grundgesetz gerichtet. Abtrennen davon muss man aber antidemokratische Positionen, wie „kein Asyl für Muslime“ von Björn Höcke. Die Schwierigkeit für Lehrerinnen und Lehrer liegt in der Diagnose: Was sagen und was meinen meine Schüler? Ist es demokratisch? Wenn nicht: Wie gehe ich damit um? Die Moralkeule erzeugt eher Trotz, die Schülerinnen und Schüler verstecken sich.

Sie bilden angehende Sozialkundelehrerinnen und -lehrer aus. Wie gehen Sie mit diesem Problem in Ihren Seminaren um?
Seit meiner Doktorzeit in Hamburg arbeite ich an einer Methode für politische Identitätsentwicklung. Im Zentrum steht dabei ein Soziales Experiment, bei dem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein fiktives Dorf gründen sollen. Sie streiten dann in der Simulation zum Beispiel darum, wie Entscheidungen zur Herrschaftsfrage, zur Güterverteilung, zur Religion oder etwa zur Migration gefällt werden sollen. Da werden die unterschiedlichen Grundhaltungen sehr deutlich. In meinen Lehrveranstaltungen lernen die Studierenden dann Strategien kennen, wie man auch mit Vorstellungen von Ungleichwertigkeit umgeht. Seit ich in Sachsen-Anhalt arbeite, sind wir besonders auch an Schulen aktiv, in denen rechtspopulistische Argumentationen auffallen. Gerade dort ist die Nachfrage immer größer geworden: Was machen wir, wenn wir „solche“ Schüler haben?

Der Beutelsbacher Konsens besagt, dass Lehrer ihren Schülern nicht ihre Meinung aufzwingen dürfen, dass Themen kontrovers diskutiert werden sollen und dass die Schüler dazu befähigt werden sollen, die Situation der Gesellschaft zu analysieren, um ihre eigene Meinung zu bilden. Ist dieser Konsens angesichts der aktuellen Entwicklungen noch aktuell?
Der Konsens ist aktueller denn je. Er erlaubt Lehrkräften auch, Aussagen als antidemokratisch zu kennzeichnen. Indem ich fragwürdige Aussagen zur Diskussion stelle, können die Jugendlichen selbst darüber verhandeln. Die Korrektur durch Gleichaltrige ist viel effektiver. Überwältigung passiert dann, wenn sich Lehrer über eine Aussage aufregen und die Schüler zum Direktor schicken. Menschlich ist das sehr verständlich, aber professionelles Handeln bedeutet, die menschlichen Regungen zurückzustellen und die Frage sachlich zu behandeln. So ergeben sich womöglich Anregungen zum Perspektivwechsel. Ich muss als Lehrer auch den rechtspopulistisch gesinnten Schülerinnen und Schülern das Gefühl geben, dass sie ihre Meinung äußern dürfen. Allerdings müssen wir diese als demokratische Gesellschaft nicht gut finden. Und die Grenze, wo ich als Lehrer oder Uni-Dozentin direkt einschreiten muss, ist überschritten, wenn anwesende Minderheiten beleidigt werden.

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