Bücher aus Buchenwald

31.03.2020 von Matthias Münch in Wissenschaft
PD Dr. Stephan Pabst hat ein ehrgeiziges Projekt gestartet: Er will die Literatur erschließen, die das Konzentrationslager Buchenwald hervorgebracht hat, und noch unbekannte Werke auch von osteuropäischen Autoren entdecken. Den Auftakt dazu bildete eine internationale Tagung in Weimar.
Literatur über das Konzentrationslager Buchenwald ist ein Forschungsschwerpunkt von Stephan Pabst.
Literatur über das Konzentrationslager Buchenwald ist ein Forschungsschwerpunkt von Stephan Pabst. (Foto: Markus Scholz)

Der Auslöser war ein Buch von Jorge Semprún. Der Spanier emigrierte im Alter von 16 Jahren nach Frankreich, schloss sich dort der Resistance an und wurde 1944 von den Nationalsozialisten in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert. In seinem Roman „Die große Reise“ beschreibt er die fünf Tage dauernde Fahrt nach Weimar und gibt zugleich Einblicke in sein Leben als junger Widerstandkämpfer, die Erlebnisse im Lager und sein politisches Engagement in der vermeintlich friedlichen Welt nach dem Krieg. „Ich lag mit Jetlag in einem Hotel in Boston und las Semprún. Danach konnte ich erst recht nicht schlafen. Das war der Anfang der Arbeit“, sagt PD Dr. Stephan Pabst.

Pabst lehrt und forscht zu Neuerer Literatur, seit 2019 am Institut für Germanistik der MLU. Inspiriert von Semprún beschloss er, seine Buchenwald-Forschungen zu intensivieren und das Korpus der Literatur dieses Lagers zu erschließen. Stephan Pabst hat den Ettersberg quasi vor der Tür, er lebt in Weimar und damit an einem Ort, der aus literaturhistorischer Sicht kontrastreicher kaum sein könnte: Hier die Klassik Wielands, Goethes, Herders und Schillers mit ihrem Streben nach Harmonie, Humanität und Toleranz. Dort, acht Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, ein Lager, in dem zwischen 1937 und 1945 über eine Viertelmillion Menschen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihres Glaubens, ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer politischen Überzeugung inhaftiert waren und etwa 56.000 Menschen von ihnen starben.

Holocaust-Begriff zu ungenau

Pabsts Vorhaben ist ehrgeizig, denn eine zusammenfassende Darstellung der Literatur hat es bislang weder für Buchenwald noch für ein anderes Konzentrationslager gegeben. Erschwert wird die Forschung nicht zuletzt dadurch, dass sämtliche Werke zu diesem Thema allgemein der Holocaust-Literatur zugerechnet werden. „Diese Indifferenz gegenüber unterschiedlichen Opfergruppen ist sicher gut gemeint, im Falle Buchenwald jedoch nur eingeschränkt zutreffend“, erklärt der Wissenschaftler. Denn anders als etwa Auschwitz, Treblinka oder Sobibor wurde Buchenwald nicht primär zur Vernichtung jüdischer Menschen errichtet. Auf dem Ettersberg waren neben Juden auch Kommunisten und Sozialdemokraten, Zeugen Jehovas, Sinti und Roma, Homosexuelle, Kriminelle oder sogenannte Asoziale interniert. Pabst: „Die nationale und soziale Häftlingsstruktur Buchenwalds ist außerordentlich heterogen. Die Reduzierung auf den Holocaust-Begriff verstellt den Blick auf diese Vielschichtigkeit. Vor allem die politische Prägung der Häftlinge und der Texte, die sie später schreiben, bleibt auf die Art unverständlich.“

Literaturgeschichtlich lassen sich im Wesentlichen zwei Gruppen von Buchenwald-Autoren unterscheiden: solche, die überwiegend über die eigene Erfahrung berichten, und solche, die einen Repräsentationsanspruch für das gesamte Lager erheben. Die Totalitätsperspektive findet sich vor allem in der fiktionalen, stark politisierten Literatur der 1950er Jahre – beispielsweise in Pierre Julittes „L'Arbre de Goethe“ oder in „Nackt unter Wölfen“ von Bruno Apitz. Apitz hat sicher das bekannteste Werk der Buchenwald-Literatur geschaffen. Der Roman wurde in der DDR zur hegemonialen Buchenwald-Deutung, zur Lagererzählung schlechthin. „Die literaturwissenschaftliche Forschung hat sich intensiv mit Apitz beschäftigt und nach 1989 versucht, seine Perspektive ideologisch und historisch zu korrigieren“, sagt Pabst. „Das hat allerdings auch dazu geführt, dass die Erforschung anderer Buchenwald-Literatur vernachlässigt wurde.“

Die Werke der 1960er und 1970er Jahre rücken dann ab von der totalisierenden Literatur der unmittelbaren Nachkriegszeit. Semprún etwa schreibt weitgehend autobiografisch, ebenso wie der jüdische Kommunist Fred Wander oder der Ungar Imre Kertész. Pabst: „Die Texte dieser Zeit erzählen subjektiv und nehmen die politische Deutung des Lagers zurück. Politisch sind sie dennoch, weil sie die Ethik der Freiheit verfechten.“

Suche in Sprachräumen

Im Verhältnis zu anderen Konzentrationslagern hat Buchenwald eine große Anzahl literarischer Werke hervorgebracht. Einige, etwa Robert Antelmes „L’espece humaine“ oder die Romane Semprúns, zählen über den Kontext Buchenwalds hinaus zur etablierten Lagerliteratur. Andere Texte stehen eher am Rande der Literaturgeschichte, wie Fred Wanders „Der siebente Brunnen“ oder H.G. Adlers „Panorama“. Die Literatur des westeuropäischen Sprachraums gilt als gut erforscht – ganz anders als die Osteuropas. „Der Roman ,Wolke und Walzer‘ des Tschechen Ferdinand Peroutka ist erst vor wenigen Jahren übersetzt worden“, sagt Stephan Pabst. „Polnische oder russische Texte sind fast gar nicht bekannt, obwohl Polen und Russen einen großen Anteil unter den Häftlingen ausmachten.“

Um solche Texte zu finden, aber auch unbekannte Werke westeuropäischer Autoren zu entdecken, hat Pabst das Projekt „Buchenwald in Europa“ gestartet. Den Auftakt bildete im vergangenen September eine viertägige Tagung in Weimar mit Forscherinnen und Forschern aus Deutschland, Frankreich, Spanien, Großbritannien, Österreich, den Niederlanden, Luxemburg, Ungarn, Polen und Serbien. „Unser Ziel ist es, Expertinnen und Experten aus möglichst vielen Sprachräumen ins Boot zu holen, denn anders sind Recherchen zu dieser speziellen Literatur und ihre Einordnung kaum möglich“, erklärt  Pabst. Die Veranstaltung hat nicht nur unbekannte Texte, sondern auch neue Erkenntnisse über die Verteilung von Häftlingsgruppen in den jeweiligen Nationen präsentiert. Sie hat aber auch Lücken offenbart, die noch zu schließen sind: „In den kommenden Monaten wollen wir unser Netzwerk erweitern und Kontakte beispielsweise in Belgien oder Skandinavien knüpfen. So sollen die weißen Flecken sukzessive von der Landkarte der Buchenwald-Literatur verschwinden.“

PD Dr. Stephan Pabst
Germanistisches Institut
Tel. +49 345 55-23665
Mail: stephan.pabst@germanistik.uni-halle.de

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