Mit Extremtemperaturen zur Weltraummission

13.12.2023 von Matthias Münch in Wissenschaft, Forschung
Chemiker der MLU wollen dabei helfen, Ionenantriebe von Satelliten sicherer und preiswerter zu machen. Dafür setzen sie auf ein ungewöhnliches Material, dessen Struktur sie mit Hilfe extremer Temperaturen gezielt verändern.
Nils Kotschote (li.) und Stefan Ebbinghaus schauen sich das Modell einer Raumsonde an. Sie forschen in einem Projekt, das die Ionenantriebe von Sonden, Satelliten und Co. sicherer und preiswerter machen soll.
Nils Kotschote (li.) und Stefan Ebbinghaus schauen sich das Modell einer Raumsonde an. Sie forschen in einem Projekt, das die Ionenantriebe von Sonden, Satelliten und Co. sicherer und preiswerter machen soll. (Foto: Markus Scholz)

Nils Kotschote verschließt das kleine Päckchen, das an die Universität Gießen adressiert ist und noch heute in die Post gehen soll. Es enthält zehn schwarze Tabletten, jede zwei Zentimeter im Durchmesser und etwa drei Gramm schwer. Die Erwartungen an die Proben sind hoch: Sie sollen künftige Weltraummissionen sicherer und zugleich preiswerter machen. „Wir forschen an sogenannten Elektriden, die in Ionenantriebsystemen im All eingesetzt werden sollen“, erklärt der Doktorand am Institut für Chemie der MLU.

Bisherige Ionenantriebe sind anfällig

Ionenantriebe werden genutzt, um Sonden, Satelliten und andere Raumfahrzeuge im All anzutreiben und zu steuern. „Konventionelle Raketentriebwerke sind dafür ungeeignet, weil die benötigten Brenn- und Sauerstofftanks viel zu schwer sind. Außerdem lässt sich der Schub mit ihnen wesentlich schlechter dosieren“, sagt Prof. Dr. Stefan Ebbinghaus, der die Arbeitsgruppe Festkörperchemie leitet. In Ionentriebwerken wird zunächst der Treibstoff, üblicherweise Xenongas, in positiv geladene Ionen und negative Elektronen zerlegt. Mit einem elektrischen Feld werden die schweren positiven Ionen aus dem Triebwerk herausbeschleunigt – der Rückstoß dieses Ionenstrahls treibt das Raumfahrzeug an.

Allerdings muss der Treibstrahl aus den positiv geladenen Teilchen wieder neutralisiert werden, sonst würde sich das Raumfahrzeug negativ aufladen, was dessen Elektronik stören würde. Außerdem würden die Xenon-Ionen vom Raumfahrzeug wieder angezogen und somit keinen Schub erzeugen. Für die Neutralisation werden sogenannte Elektronenemitter genutzt – beispielsweise Lanthanhexaborid, eine keramische Verbindung aus Bor und Lanthan. Sie wird auf bis zu 1.700 Grad Celsius erhitzt und emittiert dadurch Elektronen, die in den Ionenstrahl geleitet und von den positiven Xenon-Ionen aufgenommen werden. Die extremen Temperatur¬en sind einer der Hauptgründe dafür, dass Neutralisatoren die Achillesferse von Ionenantriebssystemen sind. Eine 2003 gestartete japanische Weltraummission zum Asteroiden Itokawa wäre beinahe gescheitert: Als die Sonde 2010 zur Erde zurückkehrte, war von den vier Neutralisatoren nur noch einer funktionstüchtig.

Stabilere Materialien gesucht

Weltweit wird deshalb nach alternativen Materialien für Neutralisatoren gesucht. Durch eine Kooperation mit der Justus-Liebig-Universität Gießen ist auch die Arbeitsgruppe Ebbinghaus an dieser Suche beteiligt – und hat einen vielversprechenden Kandidaten im Visier. „Wir konzentrieren uns auf Mayenit“, sagt Nils Kotschote. „Das ist ein aus Kalzium, Aluminium und Sauerstoff bestehendes Mineral, das in der Natur vorkommt und auch ein Bestandteil von handelsüblichem Portlandzement ist, also eigentlich ein Massenprodukt darstellt.“

Die Arbeitsgruppe der MLU stellt Mayenit aus Kalkstein und Aluminiumoxid synthetisch her. „Wir mahlen die Ausgangsstoffe zu einem feinen Pulver, das wir in Tablettenform pressen und anschließend auf über 1.000 Grad Celsius erhitzen“, erklärt Kotschote. „Bei diesem Vorgang sintert das Pulver zu einer stabilen Keramik.“ Das so erhaltene Mayenit gibt jedoch nicht genügend Elektronen ab, um direkt als Neutralisatormaterial infrage zu kommen.

In einem zweiten Schritt wird das Mayenit deshalb zusammen mit einem Reduktionsmittel unter Ausschluss von Sauerstoff erneut erhitzt, wobei ein sogenanntes Elektrid entsteht. „Wenn aus weißen Tabletten schwarze werden, dann wissen wir, dass der Versuch erfolgreich war und es sich lohnt, das Material weiter zu testen“, so Kotschote. Elektride stellen eine exotische Stoffgruppe dar: Gewöhnliche Kristalle, zum Beispiel Kochsalz, bestehen aus positiv und negativ geladenen Atomen. Elektride hingegen besitzen anstelle der negativen Anionen Elektronen im Kristallgitter, die leicht abgegeben werden können. Allerdings sind Elektride zumeist extrem luft- und feuchtigkeitsempfindlich – im Gegensatz zum Mayenit-Elektrid. Diese Verbindung kann jahrelang offen an der Luft gelagert werden und ist sehr robust gegenüber Temperaturschwankungen. Das macht es zusätzlich zu einem vielversprechenden Material in der Optoelektronik und in der chemischen Industrie.

Elektrid könnte Xenon überflüssig machen

Die in Halle vorbereiteten Proben werden von Prof. Dr. Peter Klar am I. Physikalischen Institut der Universität Gießen untersucht. Die von Klar geleitete Arbeitsgruppe forscht seit vielen Jahren in Kooperation mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt und baut Ionenantriebe im Labormaßstab. So können die Gießener den Forschenden der MLU Rückmeldung über erzielte Fortschritte geben. Ziel ist es, durch chemische Modifikation Elektride zu erhalten, die noch leichter Elektronen freisetzen und eine bessere thermische Leitfähigkeit besitzen, damit der Emissionsprozess im All bei niedrigeren Temperaturen ablaufen kann. „Schon zwei- bis dreihundert Grad weniger bedeuten eine enorme Energieersparnis und zugleich eine wesentlich geringere Belastung des gesamten Systems“, sagt Stefan Ebbinghaus. Sollte das Kooperationsprojekt, das im Frühherbst 2022 startete und zunächst auf drei Jahre angelegt ist, zu diesem Ergebnis führen, würden künftige Neutralisatoren wesentlich leichter, zuverlässiger und kostengünstiger sein als die aktuell eingesetzten.

Mit Mayenit ist jedoch noch eine weitere Hoffnung verbunden: Das Elektrid hat das Potenzial, das extrem seltene und teure Xenon durch preiswertes Jod zu ersetzen. „Wie Xenon lässt sich auch Jod gut ionisieren und wäre als Feststoff wesentlich einfacher zu handhaben als das Edelgas, das komprimiert in Tanks mitgeführt werden muss“, erklärt Ebbinghaus. Dass Jod bislang nicht für Ionenantriebe verwendet wird, hat einen simplen Grund: Es verträgt sich nicht mit den in aktuellen Neutralisatoren eingesetzten Materialien. Ebbinghaus: „Mayenit könnte viele Probleme auf einen Schlag lösen, deshalb arbeiten wir so intensiv daran.“ Sollte die Arbeitsgruppe erfolgreich sein, dann könnte mit jeder künftigen Weltraummission auch ein Stück Innovation aus Halle durchs All fliegen.

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Chemie

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