Die Kunst, Probleme zu lösen

08.11.2016 von Corinna Bertz in Personalia
Voraussetzung – Behauptung – Beweis – dieses zentrale Denkmuster liegt der Mathematik zu Grunde. Aber auch gesellschaftliche Prozesse funktionieren häufig so. Insofern ist es nur folgerichtig, dass Prof. Dr. Wilfried Grecksch seit 1992 an der Uni Halle nicht nur als Professor für Stochastik geforscht und gelehrt hat. Zwischen 2000 und 2006 navigierte er seine Alma Mater auch als Rektor durch stürmische Zeiten. Am 18. November verabschiedet sich das dienstälteste Mitglied des Akademischen Senats in den Ruhestand.
Wilfried Grecksch (Mitte) als Rektor beim Neujahrsempfang 2003 mit Vertretern der Halloren-Salzwirkerbrüderschaft
Wilfried Grecksch (Mitte) als Rektor beim Neujahrsempfang 2003 mit Vertretern der Halloren-Salzwirkerbrüderschaft (Foto: Norbert Kaltwaßer)
Wilfried Grecksch
Wilfried Grecksch (Foto: Maike Glöckner)

Um ein Haar wäre aus Wilfried Grecksch kein Mathematiker sondern ein Theologe geworden. Zwischen diesen beiden Fächern schwankte der gebürtige Dresdner, als er Ende der 1960er Jahren auf der Suche nach dem geeigneten Studienfach für sich war. Den Ausschlag für die Mathematik gab schließlich die Überlegung, dass man als Pfarrer auch Beerdigungen hätte zelebrieren müssen. „Das wäre nicht mein Ding gewesen“, sagt Grecksch und fügt hinzu: „Diese Entscheidung habe ich nie bereut.“

Auch deshalb, weil er als Experte für gewöhnliche und stochastische partielle Differenzialgleichungen Grundlagenforschung betreibt, für die es viele praktische und sehr moderne Anwendungen gibt. Mit solchen Gleichungen lassen sich zeitliche Vorgänge beschreiben und modellieren, die zufällig gestört werden. Also zum Beispiel solche, die bei Crashs auf dem Finanzmarkt, bei der Genregulierung, der mathematischen Modellierung selbstfahrender Autos oder in stochastischen Modellen in der Physik auftreten können.

Ein Rektor im Gegenwind

„Die Mathematik ist absolut krisenfest“, sagt Grecksch. Alle seine Absolventen waren und sind deshalb auf dem Arbeitsmarkt sehr gefragt. Eine ehemalige Doktorandin ist inzwischen bei der Bundesbank tätig. Bevor sie dorthin ging, hatte sie vier Bewerbungen geschrieben. Und vier Zusagen erhalten. „Dies zeigt natürlich auch die Qualität unserer Ausbildung“. Vier der zahlreichen Doktoranden, die in den vergangenen 24 Jahren durch seine Schule gegangen sind, haben inzwischen selbst eine Professur inne.

Wilfried Grecksch weiß, dass viele Menschen Vorbehalte gegenüber der Mathematik hegen. Diese Skepsis, so ist er überzeugt, lässt sich abbauen. „Viele Leute können sich einfach nicht vorstellen, was man in und mit einem Mathematikstudium machen kann. Wenn man ihnen dann Beispiele nennt, schmilzt das Eis. Mathematik ist nicht vordergründig die Kunst, zu Rechnen, sondern, Probleme zu lösen“, so der 68-jährige.

Auch deshalb sei es seiner Ansicht nach kein Zufall, dass nach der politischen Wende in Ostdeutschland so viele Mathematiker in politische Funktionen gelangt seien. Darunter auch Greckschs einstiger Kommilitone und Freund, der inzwischen verstorbene frühere Ministerpräsident Reinhard Höppner.

Mit den politischen Weichenstellungen von Höppners Regierungszeit wurde Grecksch konfrontiert, als er im Jahr 2000 zum Rektor der Uni Halle gewählt wurde. Im Rückblick betrachtet sei es gut gewesen, dass sich damit zwei Akteure mit mathematischen Denkstrukturen gegenüberstanden. Damals stand die Uni vor einer gewaltigen Kürzungswelle. Viele Mitarbeiter mussten um ihre Stellen fürchten. Studentenstreiks gehörten zum Alltag. Einmal wurde sogar das Rektorat besetzt.

Für Grecksch selbst bedeutete diese Zeit viel Gegenwind. Vor allem dann, wenn es unsachlich und persönlich verletzend wurde, ging das nicht spurlos an ihm vorbei. Einmal zeigte ihn und weitere Rektoratsmitglieder ein Demonstrations-Plakat am Galgen hängend. „In solchen Momenten habe ich mich gefragt, warum ich mir das Amt eigentlich angetan habe“, sagt Grecksch und ergänzt: „Meine Frau hat in dieser Zeit viel aushalten müssen, und sie hat mir sehr oft den Rücken gestärkt.“

„Ein gleitender Übergang ist ein großes Glück“

Rektor Wilfried Grecksch (2. v. l.) 2001 bei der traditionellen Disputation in Wittenberg am Reformationstag.
Rektor Wilfried Grecksch (2. v. l.) 2001 bei der traditionellen Disputation in Wittenberg am Reformationstag. (Foto: Norbert Kaltwaßer)

Seine damals getroffenen Entscheidungen hält er nach wie vor für richtig. Beharrlichkeit war wichtig, um so weit zu kommen. „Man musste eine Meinung vertreten, und die durfte nicht wackeln.“  Der Abbau sei schmerzlich gewesen. Doch inzwischen sei an der Universität Halle auch etwas gewachsen. Etwas, dem Grecksch damals den Weg geebnet hat: 2004 wurde es möglich, mit Mitteln aus der Exzellenzinitiative der Landesregierung an der Uni wissenschaftliche Schwerpunkte zu bilden und zu stärken. Dafür hatte er sich stets eingesetzt und seinerzeit nicht nur Lob erhalten. Heute sieht er die Uni gefestigt. „Sie ist baulich im besten Zustand und wird wahrgenommen, wofür der Zulauf von Studenten der beste Beweis ist.“

Seinem bevorstehenden Ruhestand sieht Grecksch mit der ihm eigenen Gelassenheit entgegen. „Ein gleitender Übergang ist ein großes Glück“, sagt er mit Blick auf die Tatsache, dass er – bis ein Nachfolger für ihn gefunden ist – weiterhin Vorlesungen halten wird, und auch seine letzten Doktoranden bis zu deren Abschluss betreuen will. Die freilich jetzt schon entstandenen Freiräume weiß er bestens für sich und seine Familie zu nutzen. Er geht in seiner Rolle als Großvater auf. Seine Leidenschaft gehört außerdem der technischen Verfeinerung seiner Modelleisenbahn, die im Garten seines Hauses in Leipzig stetig gewachsen ist und an deren Betrieb auch die beiden Enkelsöhne große Freude haben.

Seiner beruflichen Leidenschaft, der Stochastik, wird Grecksch nun anlässlich seiner Abschiedsvorlesung ein letztes Mal öffentlich frönen. Am 18. November geht es ab 14 Uhr in der Aula des Löwengebäudes um „Stochastik für jedermann: Vom Münzwurf zur modernen Forschung - versehen mit einigen hochschulpolitischen Fußnoten“. In seinem Vortrag wird er auch über seinen legendären Münzwurf sprechen, mit dem er vor ein paar Jahren als Senatsmitglied anlässlich der Vorstellung zweier Rektorenkandidaten eine Entscheidung herbeiführen sollte. Nämlich die, welcher der beiden mit seinem Vortrag beginnen sollte. Doch leider missglückte der Wurf, so dass die Münze zunächst wild durch den Hörsaal rollte. „Sie zu werfen, war trotzdem naheliegend“, sagt Grecksch, „denn der Münzwurf ist das einfachste Experiment aus der Stochastik. Und eine ideale Münze bietet eine Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent.“

 Die Abschiedsvorlesung von Prof. Dr. Wilfried Grecksch findet am 18. November um 14 Uhr in der Aula im Löwengebäude statt.

Kontakt: Prof. Dr. Wilfried Grecksch
Institut für Mathematik
Tel.: +49 345 55-24670
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