Demografie-Woche: Die Literatur als Linse

10.04.2015 von Corinna Bertz in Varia, Forschung, Wissenstransfer, Wissenschaft
In 20 Jahren wird Sachsen-Anhalts Bevölkerung die älteste in ganz Europa sein. Seit 1990 sinkt die Einwohnerzahl kontinuierlich. Wie sich der demografische Wandel gestalten lässt, darüber diskutieren seit 10. April Landschaftsplaner, Politiker und Wissenschaftler während der ersten landesweiten Demografie-Woche. Was Literaturwissenschaftler zur Debatte beitragen können, berichtet Prof. Dr. Werner Nell im Interview.
Die Literaturwissenschaftler aus Halle erforschen unter anderem, was Menschen dazu bewegt, in Dörfern zu leben oder sie zu verlassen.
Die Literaturwissenschaftler aus Halle erforschen unter anderem, was Menschen dazu bewegt, in Dörfern zu leben oder sie zu verlassen. (Foto: Torsten Maue / Flickr / CC BY-SA 2.0)

Was interessiert Sie als Geisteswissenschaftler am demografischen Wandel?
Werner Nell: Ich bin kein Freund der Unterscheidung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Denn auch in den Naturwissenschaften wird Geist gebraucht und ohne Natur sieht der Geist in den anderen Wissenschaften vermutlich ebenfalls recht jämmerlich aus. Auch als Literaturwissenschaftler interessiert mich vor allem der Mensch als kreatives und als soziales Wesen. Wie gehen Menschen miteinander um? Um dieses Miteinander geht es auch in der Sprachgeschichte und in der Literaturwissenschaft. Kommunikation geht nicht ohne Sprachzeichen und diese wiederum tragen ihre eigenen Geschichten und Konnotationen mit sich, die Literatur- und Sprachwissenschaftler erkunden. Bei unserem Forschungsprojekt „Experimentierfeld Dorf“, das jetzt von der Volkswagenstiftung über drei Jahre mit 700.000 Euro gefördert wird, interessiert uns: Was bewegt Menschen dazu, in Dörfern zu leben, sie zu verlassen oder auf das Dorf zu ziehen? Warum lesen so viele Städter offensichtlich gerne über das Dorf und wie reagiert eine Dorfbevölkerung darauf, wenn die Einwohnerzahl abnimmt oder zunimmt?

Prof. Dr. Werner Nell leitet das Forschungsprojekt "Experimentierfeld Dorf".
Prof. Dr. Werner Nell leitet das Forschungsprojekt "Experimentierfeld Dorf". (Foto: Maike Glöckner)

Wie erforschen Sie das literaturwissenschaftlich?
Uns beschäftigt, in welcher Art und Weise man das Thema und das Erfahrungsfeld Dorf in der Literatur finden kann. Was können wir zu diesem Thema mit unserem Wissen aus der Literatur erarbeiten und beitragen? Die Grundannahme ist, dass Menschen sich auch an Erzählungen und Überlieferungen, also an literarischen Werken orientieren, wenn sie sich verändern wollen oder wenn sie versuchen, ihre Situation und ihre Erfahrungen für sich zu deuten. Denn in allen literarischen Texten geht es letztlich auch um Fragen der Lebensführung, im Sinne dessen, was mit Rückgriff auf Aristoteles und die Philosophin Martha Nussbaum ein gutes Leben genannt werden kann.

Trifft Ihre Forschung in den Dörfern auf Interesse?
Ja. Bei der Demografie-Woche sprechen wir darüber zum Beispiel mit Akteuren aus ländlichen Räumen, mit Kommunalpolitikern und unter anderem auch mit einer Forscherin, die sich intensiv mit Gesundheitsversorgung, Alterssicherung und der Förderung klein- und mittelständischer Betriebe in der Westpfalz beschäftigt hat – einer benachteiligten Region, die seit Jahrzehnten einen tiefgreifenden Strukturwandel durchläuft. Im Rahmen unserer Arbeit stehen wir mit Bürgermeistern und Kommunalpolitikern im Kontakt, ebenso mit Landwirtschaftsexperten und Agrarsoziologen. Auch sie interessieren sich dafür, welche möglichen Sinnerwartungen Menschen an Dörfer haben und wie das Dorf entsprechend sozial und kulturell gestaltet werden kann.

Was kann die Literaturwissenschaft da beitragen?
Literatur handelt von Sinnzerstörung und Sinnerwartung. Sie ist eine Art Linse, durch die Lebensinhalte wahrgenommen werden. Ich glaube, dass die Ursache vieler Probleme und Konflikte darin liegt, dass vergessen wurde, woher wir kommen. Nur zwei Generationen vor uns gab es noch die Erfahrungen von Hunger, Flucht, Armut, Gewalt in Form von Krieg und lebensbedrohendem Mangel. Aber diese Erfahrung einer sozialen Desorientierung ist heute verschüttet, wenn es etwa darum geht, sich die Leidenserfahrungen von Flüchtlingen, Unterversorgung und Angst um die eigene Familie und andere auch nur vorzustellen. In der Literatur kann sie wiedergefunden werden, denn gute Belletristik ist auch ein Verhandlungsfeld von Lebenserfahrungen und -entwürfen – freilich künstlerisch überformt, deshalb situationsentlastet und so auch immer wieder aufs Neue lesbar und gegebenenfalls berührend.

Welche Literatur schauen Sie sich an?
Wir sind nicht die Ersten, die sich mit der Frage beschäftigen, welchen Sinn das Gestalten menschlicher Räume hat. Georg Simmel hat sich als Soziologe und Bernhard Waldenfels als Philosoph mit Raumorientierungen, deren sozialen Folgen und kulturellen Bedeutungen beschäftigt. Der Literaturwissenschaftler Hartmut Böhme hat etwas provokativ, aber ebenso produktiv vorgeschlagen, eine Baustelle kulturwissenschaftlich zu untersuchen. Auf sie beziehen wir uns ebenso wie auf die Ansatzpunkte des spatial turn und neuere Impulse, die darauf zielen, sozialen Sachverhalten in den Literaturen wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Das Dorf ist aber auch ein Thema der gegenwärtigen Belletristik, der Journale und im Film. Katharina Hacker beschäftigt sich mit Dorfgeschichte und Peter Kurzeck beschreibt die Entwicklung von Modernisierung im ländlichen Raum satirisch-kritisch.

Und wie gestaltet sich der Dialog darüber mit Landschaftsplanern und Politikern?
Nach unserer Erfahrung sind viele Menschen, zumal mit einiger Lebenserfahrung, vergleichsweise offen für die Annahme, dass Sinnorientierungen und Sinnerwartungen beim Gestalten menschlicher Räume eine Rolle spielen. Eine unserer Projektpartnerinnen ist Sigrun Langner, Juniorprofessorin für Landschaftsarchitektur und Landschaftsplanung an der Bauhaus Universität in Weimar und wir haben von ihr den Begriff der rurbanen Landschaften gelernt: Eine Gestaltung von Siedlungsräumen und Landschaften, in der städtische und dörfliche Elemente aufs Neue miteinander verschränkt werden. Beispiele dazu gibt es inzwischen in vielen Städten, in Bern und Paris, aber auch in Toronto und in Dessau-Roßlau.

Mit Vorträgen, Diskussionsveranstaltungen und Workshops beteiligt sich die Uni Halle an der Demografie-Woche in Sachsen-Anhalt, die vom 10. bis 17. April 2015 stattfindet.
Mit Vorträgen, Diskussionsveranstaltungen und Workshops beteiligt sich die Uni Halle an der Demografie-Woche in Sachsen-Anhalt, die vom 10. bis 17. April 2015 stattfindet.

Mehr Informationen zum Workshop "Zukunft Dorf?" im Rahmen der Demografie-Woche

Demografie-Programm und Gründerwoche

Das Programm der MLU zeigt in der Demografie-Woche die Vielfalt der Thematik. Ein Schwerpunkt ist in der Medizinischen Fakultät verankert: Dort finden am 15. und 16. April verschiedene Veranstaltungen statt, die unter anderem die Bereiche Gesundheit, Pflege und Selbstbestimmtheit im Alter in den Mittelpunkt stellen.

Beteiligt an der Demografie-Woche sind auch weitere Institute der Universität, zum Beispiel das Institut für Soziologie und das Institut für Germanistik, die Fragestellungen unter geistes- und sozialwissenschaftlicher Perspektive diskutieren. Alle Informationen und das gesamte Programm unter: www.demografie.sachsen-anhalt.de/demografie-kongress-und-demografie-woche-2015

Mit den Chancen, die der demografische Wandel für junge Kreative und innovative Ideengeber bereithält, beschäftigt sich auch der Univations Gründerservice der MLU, der die jährliche Gründerwoche mit verschiedenen Aktionen zeitgleich ab 10. April im Rahmen der Demografie-Woche veranstaltet. Die Woche steht unter dem Motto „Erfinde deinen Platz!“. Sechs Tage lang werden brennende Fragen rund um das Thema Gründen gemeinsam mit Experten bearbeitet und beantwortet. Informationen und Anmeldung zu den Veranstaltungen von Univations: www.gruendung.uni-halle.de/gruenderwoche.

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