Das Wörterbuch mit dem Erbsenbär

09.05.2016 von Ines Godazgar in Forschung, Wissenschaft
Im Jahr 1935 begann der Germanist Karl Bischoff mit der Arbeit an einem Wörterbuch der Dialekte seiner Heimat. Im Lauf der Jahre entstand eine beachtliche Sammlung an Belegen dafür, wie die Menschen zwischen Altmark und Anhalt damals gesprochen haben. Rund 250.000 Notizen lagern an der Uni Halle, wo das Projekt 1992 fortgesetzt wurde. Inzwischen sind zwei Bände des Werks erschienen.
Ulrich Wenner mit einem Band des Mittelelbischen Wörterbuchs im Karl-Bischoff-Archiv der Universität.
Ulrich Wenner mit einem Band des Mittelelbischen Wörterbuchs im Karl-Bischoff-Archiv der Universität. (Foto: Markus Scholz)

Wenn Ulrich Wenner an seinen Quellen arbeitet, kommt es auf Genauigkeit an. Der Fragebogen, den er aus einem Stapel gezogen hat, trägt einen Eingangsstempel vom 7. September 1938. Wenner nutzt ihn, um den Ursprung eines Wortes zu klären, das er zuvor auf einem kleinen Karteikärtchen gefunden hat. Nur wenn der Germanist sich ganz sicher ist, findet der Begriff tatsächlich Eingang in das Mittelelbische Wörterbuch.

Einer der Fragebögen, die Karl Bischoff 1938eingesammelt hat.
Einer der Fragebögen, die Karl Bischoff 1938eingesammelt hat. (Foto: Markus Scholz)

Der vergilbte Fragebogen in Wenners Händen gehört zur achten Befragung, die der 1905 geborene Germanist Karl Bischoff einst im Gebiet des ehemaligen Regierungsbezirks Magdeburg und in Anhalt durchführte. Darin sollten Menschen festhalten, wie sie in ihrem Heimatdialekt vorgegebene Alltagsdinge benennen.

Zum Beispiel das Wort „Kohlweißling“. Glaubt man den in Sütterlin notierten Angaben einer Landwirtin aus dem Kreis Osterburg, wurde das Flattertier dort einst als „Rupenschieter“ bezeichnet. Insgesamt elf solcher Fragebogen-Aktionen sind aus jener Zeit dokumentiert. Der Rücklauf bestand jeweils in bis zu 700 ausgefüllten Exemplaren. „Die Fragebögen bilden den Grundstock der Wörterbucharbeit“, erklärt Wenner, der seit 1992 in der Wörterbuchstelle tätig ist. Seither sind bereits zwei 600 Seiten starke Bände des Mittelelbischen Wörterbuchs erschienen.

Wenner arbeitet inzwischen, neben seinen anderen Aufgaben in Forschung und Lehre, am dritten und letzten Band, der die Buchstaben R bis Z zum Inhalt haben wird. Die Wörter, zu denen er derzeit Artikel mit Erklärungen, Herkunft und Gebrauch verfasst, hören sich fremd an für heutige Ohren: rumswutjen, rumtäpen, rumswimeln. Letzteres bedeutet nichts anderes als „sich nachts in Wirtshäusern herumtreiben“. Der Grund für die Fremdheit: Es handelt sich um Mundart, wie sie noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesprochen wurde. Heute gibt es nur noch wenige Dialektsprecher, die solchen Wortschatz verstehen und verwenden könnten.

Das Wörterbuch mit dem Erbsenbär

Rund 250.000 Zettel lagern im Karl-Bischoff-Archiv.
Rund 250.000 Zettel lagern im Karl-Bischoff-Archiv. (Foto: Markus Scholz)

Gründe all das zu dokumentieren, gibt es dennoch. „Dialekte sind die Ursprungsform der Kommunikation, deshalb gilt es, sie zu bewahren.“ Zudem zeigen sie historische Verbindungen auf. So lassen sich in dialektalen Begriffen aus der Ostaltmark und im Jerichower Land noch heute Belege für eine niederländische Besiedlung finden, die im 12. Jahrhundert stattgefunden hat. Und schließlich hilft die Sprache auch, die Lebenswelt der damaligen Zeit aufzudecken.

„Arbeitsvorgänge in der Landwirtschaft und Brauchtum lassen sich anhand von Begriffen sehr gut nachvollziehen“, sagt Wenner. Ein Beispiel dafür sei der Erbsenbär, in manchen Regionen auch Erbsbär genannt. Dabei handelte es sich um einen in Erbsenstroh gewickelten Jungen aus der Dorfjugend, der für gewöhnlich im Frühling an einem Seil durch das Dorf geführt wurde, um den Winter zu vertreiben. Ihm wurde im Mittelelbischen Wörterbuch ein ganzer Artikel samt Zeichnung gewidmet.

Dem Initiator Karl Bischoff lag die Arbeit an seinem Heimatdialekt am Herzen. Als Sohn eines Schmieds im anhaltischen Aken geboren, beschäftigte er sich schon während seines Studiums mit sprachlichen Aspekten seiner Heimat. – Wie auch später als Lehrer in Magdeburg und als Hochschullehrer der Uni Halle, wohin er 1948 berufen worden war. 1958 verließ Bischoff mit seiner Familie die DDR und ging nach Mainz, wo er fortan lehrte. Die Arbeit am Wörterbuch wurde eingestellt und erst nach der Wende, 1992, fortgesetzt. Wie wichtig Bischoff das Projekt immer war, belegt die Tatsache, dass sich selbst seine letzte Publikation, die 1984 posthum erschienen ist, damit beschäftigte.

Ulrich Wenner ist froh, Bischoffs Arbeit fortführen zu können. Seit vielen Jahren hat er Kontakt zu dessen Tochter Gertrud, die sich erst kürzlich in Halle über den Stand der Arbeit informiert hat. Der Verbindung zur Familie verdankt die Universität auch Bischoffs Nachlass. Historische Fragebögen, kistenweise Belege aus privaten Sammlungen und diverse Literatur gehören zum Karl-Bischoff-Archiv, das im Dachgeschoss des ehemaligen Institutsgebäudes der Germanisten am Universitätsring 4 untergebracht ist. Wie lange die Arbeit am Wörterbuch noch dauern wird, darüber kann Ulrich Wenner nur spekulieren. „Auf jeden Fall noch Jahre.“

Durch seine intensive Beschäftigung mit dem Thema ist er inzwischen zum Experten für diese Form der Mundart geworden. Erst kürzlich wurde er gebeten, die historische Inschrift auf einer Glocke zu entziffern und einen Artikel für ein Buch über das untere Saaletal zu verfassen. Ähnlich wie Karl Bischoff stammt auch Wenner aus dem Gebiet, dessen mundartliche Eigenheiten mit dem Mittelelbischen Wörterbuch festgehalten werden sollen. Als Kind hat er bei seiner Großmutter in der Nähe von Stendal noch echte Mundart gehört.

Kontakt:
Ulrich Wenner
Institut für Germanistik
Tel.: 0345 5523640
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